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Kolumne # 669 vom 19.10.2013: Unschuldig im Todestrakt

19.10.13 (von maj) Nach über zwanzig Jahren steht ein zu Unrecht wegen Mordes Verurteilter vor seiner Freilassung

Mumia Abu-Jamal * junge Welt Nr. 243 – 19./20. Oktober 2013

Von den vielen Männern und wenigen Frauen in Pennsylvanias Todestrakten befinden sich nur wenige in einer Lage wie »Shorty«. Der bei Gericht und unter Rechtsanwälten als James Dennis bekannte Gefangene sitzt seit über zwei Jahrzehnten im Todestrakt. In diesen zwanzig langen und schrecklichen Jahren fristete er sein Dasein in einer Zelle von der Größe eines kleinen Badezimmers und kämpfe von dort um seine Freiheit, sein Leben und darum, nicht seinen Verstand zu verlieren. In diesen vielen Jahren hat er wieder und wieder seine Unschuld beteuert und erklärt, nicht für den Mord an der High-School-Schülerin Chedell Williams verantwortlich zu sein. Williams war 1991 überfallen, ihrer Ohrringe beraubt und erschossen worden.
Weil Shorty damals nur aufgrund von Zeugenaussagen unter dem Verdacht verhaftet worden war, dieses Verbrechen begangen zu haben, hatte er allen Grund anzunehmen, daß er vom Mordvorwurf freigesprochen würde. Schließlich konnte er ja ein wasserdichtes Alibi vorweisen. Zum Tatzeitpunkt hielt er sich nach Aussage seines Vaters an einem anderen Ort der Stadt auf. Außerdem hatte ihn ein Bekannter zum fraglichen Zeitpunkt in einem Bus gesehen, der weit entfernt von der Stelle unterwegs war, an der die Schülerin erschossen wurde.
Was genau meinte ich mit meiner Bemerkung zu Beginn dieser Kolumne, Shortys Lage unterscheide sich von der vieler Gefangener im Todestrakt? Nun, er wies bei seiner Verhaftung kein nennenswertes Vorstrafenregister auf, es gab keinen objektiven Beweis, der ihn mit dem Tötungsdelikt in Verbindung gebrachte hätte, und außerdem hatte er ein Alibi. Das hätte reichen müssen, oder? Falsch, denn die Staatsanwaltschaft spielte Verstecken und behielt entscheidende Informationen in der Hinterhand. Sie unterdrückte den Alibibeweis und ließ Zeugen im Prozeß wissentlich Falschaussagen machen.
Doch auf der Basis eines 1963 vom Obersten Gerichtshof der USA im Fall »Brady gegen Maryland« ergangenen Grundsatzurteils hob eine Bundesrichterin in Philadelphia am 23. August die Verurteilung wegen Mordes und das Todesurteil gegen Shorty auf. Richterin Anita Brody schrieb in ihrem Beschluß, James Dennis sei »fälschlicherweise wegen Mordes und zum Tode für ein Verbrechen verurteilt worden, das er nach aller Wahrscheinlichkeit nicht begangen hat«.
Der Grund: Die ermordete Chedell Williams hatte eine Körpergröße von 1,78 Meter, Shorty ist nur 1,64 Meter groß. Das ist von entscheidender Bedeutung, denn fast alle Tatzeugen hatten ausgesagt, der Todesschütze sei mindestens so groß wie das Opfer gewesen, oder größer. Die ermittelnden Polizeibeamten haben Beweise aus anderen Quellen buchstäblich mißachtet, sie gingen anderen Spuren nicht nach, und die Staatsanwälte verheimlichten entlastende Beweise vor Dennis’ Verteidigung und rückten sie erst sechzehn Jahre nach dem Urteil heraus.
Richterin Brody ordnete in ihrem Beschluß an, das Verfahren gegen Dennis müsse innerhalb von sechs Monaten neu aufgerollt oder der Verurteilte freigelassen werden. Shorty wird also nach zwei Jahrzehnten in der Hölle das Gefängnis als freier Mann verlassen können. Was jedoch das Leben im Todestrakt betrifft, wird er von diesen Erinnerungen garantiert nie mehr frei sein.

Übersetzung: Jürgen Heiser

 
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