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Kolumne 1.014 vom 22.06.2020: Nach 72 Sommern

22.06.20 (von maj) Gerade in Freiheit nach 41 Jahren Knast, erliegt »Move«-Mitglied Delbert Africa seinem Krebsleiden

Mumia Abu-Jamal * Link zum Artikel in junge Welt Nr. 143 vom 22. Juni 2020: Bitte HIER klicken!

Nach 72 Sommern
Er wurde als Delbert Orr geboren, aber die Welt kannte ihn als Delbert Africa und als prominentes Mitglied der revolutionären Naturalistengruppe »Move«. Während der 1970er Jahre war Delbert in Philadelphia das wahrscheinlich bekannteste und meistzitierte Mitglied der Gruppe. Als einer der Älteren bei »Move« wusste er die Medien zur Verbreitung von Nachrichten zu nutzen und so die Ziele von »Move« bekanntzumachen. Sein für die ländliche Umgebung Chicagos typischer Akzent und seine druckreif gesprochenen klugen Wortspiele machten seine Aussagen interessant für die Medien.

Ich bedaure es sehr, heute mitteilen zu müssen, dass Delbert Africa, der erst am 18. Januar dieses Jahres nach 41 Jahren Gefängnis seine Freiheit wiedergewonnen hatte, vor wenigen Tagen seinen Kampf gegen seinen verheerenden Krebs verloren hat. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Im August 2019 war Delbert »wegen einer nicht näher bekannten Erkrankung« als Notfall vom Knast in eine nahegelegene Klinik verlegt worden. Nach seiner Freilassung suchte er Ärzte seines Vertrauens auf, die entsetzt waren über die medizinische Behandlung, die er im Staatsgefängnis Dallas, Pennsylvania, erhalten hatte. Einer der Ärzte wurde mit den Worten zitiert: »Die Medikamente, die man Ihnen im Gefängnis verabreicht hat, waren reines Gift!«

Trotzdem hatte Delbert das Gefängnis nach 41 Jahren in kämpferischem Geist verlassen. Er war erfüllt von Liebe für die »Move«-Organisation und Hass auf »das verkommene Scheißsystem«, wie er es nannte. Delbert hatte für Schwarze, die das System unterstützen und schwarze Revolutionäre bekämpfen, nur scharfe Kritik übrig. Er nannte sie »Nigger peons« (etwa »Nigger-Leibeigene«; jW), eine Begrifflichkeit, die ich weder vor noch nach ihm je gehört habe.

Weit über ein Jahrzehnt, bevor das Video auftauchte, das zeigte, wie Rodney King in Los Angeles von Polizisten zusammengeschlagen wurde, hatten vier Cops Delbert in Philadelphia am 8. August 1978 in Grund und Boden geprügelt, als er und acht weitere »Move«-Mitglieder verhaftet wurden. Ein Lokalsender hielt den Vorfall auf Video fest. Die Aufnahmen zeigten einen unbewaffneten Delbert, der das von der Polizei belagerte »Move«-Haus durch ein Fenster des Untergeschosses verließ. Als er sich mit nacktem Oberkörper und erhobenen Armen ergeben wollte, stürzten sich jäh vier Polizisten auf ihn, schlugen ihn mit Fäusten und Gewehrkolben zu Boden, knallten ihm einen Motorradhelm auf den Kopf und traten ihn mit Füßen, bis er bewusstlos wurde. Delbert erlitt einen Kieferbruch und mehrere Rippenbrüche, seine Augen waren auf die Größe von Ostereiern angeschwollen.

Drei der Polizisten wurden deswegen Jahre später angeklagt, aber der Prozess war eine Farce. Richter Stanley L. Kubacki setzte sich über das Urteil der Geschworenen hinweg und sprach die Angeklagten frei, obwohl die brutale Polizeigewalt vom Februar 1981 eindeutig dokumentiert war. Und weder die brutale Staatsgewalt auf den Straßen von West-Philadelphia noch das in den Gerichtssälen gesprochene Unrecht nahmen je ein Ende. Über 41 Jahre blieb der Knast auch für Delbert ein Ort, der die Seelen der Gefangenen auffrisst und sie mit seiner erbärmlichen »medizinischen Versorgung« tötet. Delbert Africa hielt diese vier Jahrzehnte durch und schritt schließlich mit dem ungebeugten Geist eines schwarzen Revolutionärs in die Freiheit. Er war und blieb Mitglied von »Move« und Anhänger der Lehren des »Move«-Gründers John Africa. Er starb in der liebevollen Umarmung seiner »Move«-Familie und seiner Tochter Yvonne Orr-El. Es ist die Liebe, durch die wir dem am nächsten kommen, was wirkliche Freiheit ist. Nach 72 Sommern ist Delbert Africa zu den Ahnen zurückgekehrt.

Übersetzung: Jürgen Heiser

 
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