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Kolumne 12.04.03: Im »Land der Freien«

13.04.03 (von maj) Recht nach zweierlei Maß gehört bei der Justiz und Polizei der USA zum Alltag

Mumia Abu-Jamal * junge Welt Nr. 87, 12./13. April 2003

Nach einem am 6. April 2003 veröffentlichten Bericht des US-Justizministeriums befinden sich gegenwärtig rund 12 Prozent der afroamerikanischen Männer in der Altersgruppe zwischen 20 und 34 Jahren in Untersuchungs- oder Strafhaft. Zum Vergleich sind nur etwa 1,6 Prozent der gleichaltrigen weißen Männer in Haft. Die Zahl der inhaftierten schwarzen Jugendlichen hat sich in den letzten Jahren auf eine vorher nie gekannte Weise überproportional erhöht.
Wie sieht das in der Praxis aus: Ein Mann stiehlt zwei Videokassetten in einem Supermarkt und wird verhaftet. Welche Strafe erhält er für diese Bagatelle? Lebenslänglich!
Ein anderer nimmt unerlaubt ein paar Golfschläger mit und wird ebenfalls verhaftet. Seine Strafe? Lebenslänglich!
Beide begingen ihre Diebstähle in Kalifornien, wo unter Präsident Clinton das berüchtigte »Three Strikes«-Gesetz verabschiedet wurde, das besagt: wer dreimal hintereinander wegen eines identischen Deliktes vor Gericht kommt, wird beim dritten Mal obligatorisch zu lebenslanger Haft verurteilt. Die beiden Erwähnten waren bereits zweimal wegen Diebstahls verurteilt und fielen so unter dieses Gesetz.
Beide Männer hatten nun zusätzlich das Pech, daß sie diese Urteile vor dem amtierenden Senat des Obersten Bundesgerichts in Washington DC anfochten, denn die Richter bestätigten in ihrem Urteil die Verfassungsmäßigkeit der kalifornischen Rechtsprechung. Was zur Folge hat, daß die beiden Strafgefangenen, Gary Ewing (der mit den Golfschlägern) und Leandro Andrade (der mit den Videokassetten) mindestens 25 Jahre bis lebenslänglich abzusitzen haben. Andrade, der für jede der beiden gestohlenen Kassetten separat zu je 25 Jahren bis lebenslänglich verurteilt wurde, kann sogar erst nach frühestens 50 Jahren entlassen werden.
In seinen mit 5 zu 4 Stimmen getroffenen Entscheidungen hat das höchste Gericht der USA diese extrem hohen Strafen für Recht erklärt und damit vermittelt, daß diese Strafen »über jeden Zweifel erhaben« sind. Richter Stephen Breyer, der die unterlegene Minderheitsmeinung im Fall Ewing vertrat, argumentierte, daß Ewing »ungeachtet seiner Rückfälligkeit« überzeugend dargestellt habe, daß die Strafe angesichts des geringen Schadens »unverhältnismäßig« hoch sei. Im Fall Andrade war es Richter David Souter, der die Minderheitsmeinung ins Urteil schrieb, das kalifornische Urteil sei »irrational«, denn »Andrade wurde nicht allein dadurch doppelt gefährlich für die Gesellschaft, daß er zum zweiten Mal eine Handvoll Videokassetten stahl«.
Beide Fälle enthüllen die absolute Macht der Gerichte, in denen nach dem Motto des »souveränen Rechts der Bundesstaaten« fast jede Ungeheuerlichkeit möglich ist. Das Ganze wird noch unglaublicher, wenn man sich die Tatsache vor Augen führt, daß zu dem Zeitpunkt, als die genannten Urteile rechtskräftig wurden, in San Francisco führende Beamte des City Police Department eine völlig andere Behandlung erfuhren, als sie wegen ihrer Beteiligung an der versuchten Vertuschung eines brutalen Überfalls auf unbescholtene Bürger vor Gericht gestellt wurden.
Wo ist der Zusammenhang dieser Fälle? Der ist schnell erklärt: Beim sogenannten »Frisco Polizei-Skandal« geht es darum, daß drei Polizisten in ihrer dienstfreien Zeit zwei Passanten tätlich angegriffen hatten, weil diese sich weigerten, den Cops ihren Steak-Snack abzugeben. Als sie dafür von den drei Angreifern verprügelt wurden, griff einer der beiden Attackierten, Adam Snyder, nach seinem Handy und rief über den Notruf 911 Hilfe herbei: »Schicken Sie bitte einen Polizeistreife, schnell!« Dem Beamten in der Notrufzentrale teilte er mit, er sei Barkeeper, habe gerade Feierabend gemacht »und dann haben die sofort eine Schlägerei angefangen, völlig grundlos!« Snyders dokumentierter Anruf beweist, daß er nicht die leiseste Ahnung hatte, daß die drei Schläger, die ihn und seinen Freund Jade Santoro angriffen, Polizisten waren. Er konnte auch nicht wissen, daß die drei Unbekannten, Matthew Tonsing, David Lee und Alex Fagan jr., gerade einen Empfang verlassen hatten, auf dem Fagans Vater seine Beförderung zum stellvertretnden Chef des Polizeidepartments feierte. Die drei frequentierten danach noch eine Bar auf einen Drink. Man könnte darüber streiten, ob sie am Ende dieser »feierlichen« Nacht nicht schon im Vollrausch waren und die Beherrschung verloren, als ihnen der begehrlich machende Steak-Geruch in die Nasen stieg und sie einfach nur noch haben wollten, was sie da rochen.
Es geht hier aber um die Rückfälligkeit von Alex Fagan jr. Nach übereinstimmenden Zeitungsberichten hatte dieser nämlich innerhalb von nur 13 Monaten nicht weniger als 16 gewaltsame Zusammenstöße mit Personen, von denen sechs im Krankenhaus landeten. Er prügelte zum Beispiel eine recht große und schwergewichtige Frau in Grund und Boden, weil sie gegen einen Streifenwagen getreten hatte, der ihr fast über den Fuß gefahren war. Zwei Tage, bevor er diese in Handschellen gelegte Frau zusammengeschlug, hatte er einen Mann wie ein Stück Vieh an Händen und Füßen zusammengebunden, weil dieser eine Frau geschlagen hatte. Diese »hog-tie« genannte Methode hatte in der Vergangenheit zu mehreren Todesfällen durch Ersticken geführt. Der von Fagan gefesselte Mann mußte wegen akuter Atemnot ins Krankenhaus gebracht werden. Einem anderen Mann, der im Verdacht stand, ein Auto gestohlen zu haben, trat der 23-jährige Fagan mit dem Fuß ins Gesicht. Einen anderen schlug er so brutal zusammen, daß er mehrere Rippenbrüche und einen Lungenriß davontrug.
Was alle diese Fälle so hervorhebt, ist der Umstand, daß Fagan diese »ungezügelten« Gewaltakte im vorwiegend von Schwarzen bewohnten Stadtteil Black Bayview beging. Aber außer der gelegentlichen Verordnung einer Nachhilfestunde in Aggressionsbeherrschung kümmerte sich die Polizeiführung nicht weiter um diesen gewalttätigen Beamten. Der sogenannte »Steak-Streich« wurde zum Skandal, weil er sich auf der Union Street, also einer »besseren Gegend«, ereignete, und - man beachte den feinen Unterschied - die Opfer dieser Schlägerei waren Weiße!
Zurück zur Frage nach dem Zusammenhang. Also da ist der eine Mann, der Menschen wiederholt Gewalt antut, sie verletzt und ein halbes Dutzend ins Krankenhaus befördert. Und da ist ein anderer, der drei Golfschläger entwendet und ein dritter, der ein paar Videokassetten stiehlt. Alle drei könnte man Wiederholungstäter nennen, aber wer wandert ins Gefängnis und zwar für immer?
Fagan dient natürlich als Polizist dem System, und Rang und Einfluß seines Vaters, der selbst mit angeklagt war, werdden wohl dafür sorgen, daß er für diese Art der legalisierten Gewalt niemals belangt wird. Nachdem der kürzlich an die Öffentlichkeit gekommene Skandal schon wieder heruntergespielt wird, ist davon auszugehen, daß weder Fagan noch die anderen neun Polizisten, die in den Skandal verstrickt sind, je eine Gefängniszelle von innen sehen werden. Konsequenterweise müßte eigentlich auch gegen die höchsten Kreise des Police Department ermittelt und die Verantwortlichen dafür ins Gefängnis gesteckt werden, daß sie als hochdotierte Beamte einen Rechtsbruch gedeckt haben.
Aber es sind zwei andere, die in die von Menschenhand geschaffene Hölle aus Ziegelsteinen und Stahl geworfen werden, um für den Rest ihres Lebens dahinzuvegetieren, weil das höchste Gericht es nicht wagte, die Rechtsprechung »in Zweifel zu ziehen«. So zeigt sich uns heute das Antlitz von Recht und Gesetz, während die USA sich anschicken, dem soeben begonnen neuen Jahrhundert seinen Stempel aufzudrücken.

Übersetzung: Jürgen Heiser

 
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