Kolumne # 516 vom 13.11.2010: Wenn Mord nicht Mord ist
13.11.10 (von maj) Zwei Kriminalfälle und das Wesen der US-amerikanischen Rechtsprechung
Mumia Abu-Jamal * junge Welt Nr. 266 – 13./14. November 2010
Im Juli 2010 wurde der 27jährige Bahnpolizist Johannes Mehserle zu zwei Jahren Haft verurteilt, weil er im kalifornischen Oakland in der Neujahrsnacht 2009 auf dem Bahnsteig der Station Fruitvale den wehrlos am Boden liegenden und mit Handschellen gefesselten Oscar Grant, 22 Jahre, erst mißhandelt und dann aus kurzer Entfernung in den Rücken geschossen und getötet hatte.
Die Polizei und das Nahverkehrsunternehmen BART (Bay Area Rapid Transit) hatten nach dem 1. Januar 2009 zunächst versucht, den Vorfall zu vertuschen. Doch schon bald tauchten Videoaufnahmen im Internet auf. Reisende hatten den gewaltsamen Übergriff von vier bewaffneten BART-Bahnpolizisten auf Oscar Grant und weitere schwarze Jugendliche mit Handys und Digitalkameras gefilmt. Außerdem gab es unmittelbar im Anschluß an die Vorfälle in der Bahnstation wütende Proteste der örtlichen schwarzen Gemeinde, bei denen über hundert Demonstranten festgenommen wurden.
Als mehrere US-Fernsehstationen die Amateuraufnahmen ausstrahlten, sahen sich die Verantwortlichen gezwungen, den Vorfall endlich zu bestätigen. Mehserle kündigte seinen Job und setzte sich mit Wissen der Behörden in einen anderen Bundesstaat ab. Als die öffentliche Empörung anstieg, zögerte der zuständige Bezirksstaatsanwalt noch über zwei Wochen, bis er die Ermittlungen aufnahm. Ein Richter stellte schließlich einen Haftbefehl wegen Mordes aus und ließ den Täter verhaften. Dieser erklärte sich für »nicht schuldig« und wurde nach wenigen Minuten auf Kaution entlassen.
Als im Sommer 2010 nach langem juristischen Tauziehen endlich die Gerichtsverhandlung stattfand, war die Wut vor allem in den schwarzen Gemeinden Kaliforniens schon nahe dem Siedepunkt. Nach Bekanntwerden des milden Urteils fanden spontane Demonstrationen in Oakland und Los Angeles statt. Es kam zu schweren Zusammenstößen mit der Polizei mit vielen Verletzten und Dutzenden Festnahmen.
Mit seinem Richterspruch hatte das US-Justizsystem der Öffentlichkeit deutlich gemacht, wie hoch es den Wert des Lebens eines jungen schwarzen Mannes einschätzt. Mehserle wurde nicht wegen Mordes, sondern wegen »fahrlässigen Totschlags« zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Bei guter Führung kann der Verurteilte mit Straferlaß rechnen. Nach nur sieben Monaten könnte er wieder in Freiheit sein, obwohl er einen Menschen umgebracht hat. Wohlgemerkt, einen Menschen mit schwarzer Hautfarbe.
Wenn alles gut läuft für den ehemaligen Bahnpolizisten Mehserle, dann sitzt er mit seinen sieben Monaten noch kürzer im Gefängnis als der afroamerikanische Rapper Lil Wayne, geboren als Dwayne Michael Carter. In dessen Tourbus hatte die Polizei im Jahr 2007 neben einer Portion Marihuana auch eine Pistole gefunden. Dafür wurde er im Oktober 2009 wegen Waffenbesitzes zu einer Haftstrafe von »mindestens acht Monaten« verurteilt, die er am 8. März 2010 antreten mußte. Lil Wayne sitzt in einem New Yorker Gefängnis in Einzelhaft, und wenn ihm keine gute Führung bescheinigt wird, dann können die acht Monate nach dem Richterspruch auf ein Jahr ausgedehnt werden. Im Gegensatz zu Mehserle hat er jedoch nur eine Waffe besessen und sie weder je eingesetzt noch damit einen wehrlosen Menschen getötet.
Im Mißverhältnis dieser beiden Urteile zeigt sich, wie im gefängnisindustriellen Komplex der USA darüber bestimmt wird, wer für welche Tat wie lange in Haft verbringen muß.
Stellen wir uns nur für einen kurzen Moment eine ganz andere Konstellation der erwähnten Neujahrsnacht vor, ein anderes Zusammentreffen von Personen und ihrer gesellschaftlichen Herkunft und Chancen. Was wäre gewesen, wenn es umgekehrt gelaufen wäre, der Schwarze Oscar Grant also auf den Weißen Johannes Mehserle geschossen hätte? Wäre Grant dann mit einem Urteil wegen Totschlags davongekommen, das faktisch auf nur sieben Monate Haft hinausläuft? Nein, das kann sich niemand wirklich vorstellen, auch der Verfasser dieser Zeilen nicht.
Übersetzung: Jürgen Heiser
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