Kolumne # 601 vom 30.06.2012: Ein öffentlicher Fall
30.06.12 (von maj) Proteste zwangen die Behörden nach Trayvon Martins Tod zum Handeln
Mumia Abu-Jamal * junge Welt Nr. 150 – 30. Juni/1. Juli 2012
Für einen kurzen Moment stachen im Frühjahr Name und Schicksal von Trayvon Martin aus dem alltäglichen Mediennebel hervor. Der Tod des 17jährigen Jugendlichen, der in Sandford, Florida, von dem bewaffneten Zivilisten George Zimmerman erschossen wurde, weil ihm der Teenager mit seinem Kapuzenpulli »verdächtig« vorkam, hat sehr viele Menschen berührt, hat sie motiviert, mobilisiert und zum Handeln bewegt angesichts der grotesken Untätigkeit des Staates, der den Mörder wieder laufen ließ. Überall im Bundesstaat Florida verließen Jugendliche die Schulen und trugen ihren Protest auf die Straße. In Dutzenden US-Städten strömten die Menschen mehr oder weniger spontan zu Großdemonstrationen zusammen und begehrten gegen das Nichthandeln der staatlichen Behörden auf. Warum? Weil die Mehrheit dieser Teenager die unausgesprochene Wahrheit empfand, daß jeder von ihnen an Trayvons Stelle hätte sein können. Jeder von ihnen.
Diese Kids setzten den Staat unter Druck und bewirkten, daß die Verantwortlichen endlich handelten, und wenn es auch nur deshalb war, um das Anwachsen einer Bewegung zu verhindern, zu der mehr und mehr Menschen stießen und die sich ausbreitete wie Kudzupflanzen unter südlicher Sonne.
Diese Proteste gegen eine Gewalt, die sich gegen Menschen richtet, nur weil sie schwarze Hautfarbe haben, finden inmitten der größten institutionellen Gewalt gegen Schwarze seit der Blütezeit der Bürgerrechtsbewegung statt. Mit dieser institutionellen Gewalt meine ich den lautlosen Angriff auf die schwarze Bevölkerung durch ihre massenhafte Inhaftierung. Die junge afroamerikanische Rechtswissenschaftlerin Michelle Alexander beschreibt diese Entwicklung in ihrem 2010 erschienenen Buch »The New Jim Crow: Mass Incarceration in the Age of Colorblindness« (»Die neuen Jim-Crow-Gesetze: Masseninhaftierung im Zeitalter der Farbenblindheit«).
Es spielt keine Rolle, daß Trayvons Mörder kein Polizist war, wie es üblicherweise der Fall ist, wenn unbewaffnete Schwarze »in Notwehr« erschossen werden. Zimmerman sah sich selbst als »informeller Hilfpolizist« eines Systems, das jede Lebensäußerung von Schwarzen als verdächtig ansieht und sie deshalb unter permanente Überwachung stellt. Die Weißen in den Südstaaten der USA wähnten sich über Jahrhunderte als stehendes Heer, in dem jeder Weiße von Gesetzes wegen oder aus Gewohnheitsrecht dazu ermächtigt war, die Schwarzen »by any means necessary« – mit allen notwendigen Mitteln – unter Kontrolle zu halten. Trayvon Martins einzige »Schuld« war, daß er sich als Schwarzer frei in der Öffentlichkeit bewegte. Und so wie ihm geht es viel zu vielen schwarzen und Latino-Jugendlichen jeden Tag.
Egal, wie der Fall Trayvon Martin auch ausgeht – den Freispruch Zimmermans halte ich für sehr wahrscheinlich –, die neuen Jim-Crow-Gesetze lasten Tag für Tag auf den Armen mit schwarzer und brauner Hauptfarbe und zerstören ihnen jede Hoffnung auf eine Zukunft, die sie sich erträumt haben. Was wir aber aus Trayvons Fall lernen können, ist folgendes: Protest ist richtig, denn ohne diesen Protest wäre Trayvons Tod nie zu einem öffentlichen Fall geworden. Diese Erkenntnis muß man auf das ungeheure soziale Unrecht des gefängnisindustriellen Komplexes übertragen, in dem heute mehr Schwarze in Ketten liegen als zur Zeit der legalen Sklaverei vor Ausbruch des Amerikanischen Bürgerkriegs oder in der Zeit, als in Südafrika noch das Apartheidsystem herrschte. Proteste – Massenproteste – sind eine absolute Notwendigkeit!
Übersetzung: Jürgen Heiser
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