Mumia Abu-Jamal * junge Welt Nr. 114 – 18.-20. Mai 2013
Die Meldungen über die Ereignisse in Cleveland, Ohio, wo kürzlich drei junge Frauen nach zehn Jahren Gefangenschaft ihrem Entführer und Vergewaltiger mit Hilfe eines Nachbarn entkommen konnten, waren so schockierend, trafen uns so unvermittelt, daß wir innehalten und uns fragen mußten: Wie gut kenne ich eigentlich meine Nachbarn? Wie gut kenne ich die Menschen um mich herum? Natürlich können wir nicht alle Leute in unserer Umgebung wirklich kennen. Da herrscht schließlich ein ständiges Kommen und Gehen. Dazu kommt, daß US-Amerikaner gern für sich sind, sie wollen nicht aufdringlich sein und sich nicht in das Privatleben anderer Leute einmischen. Früher gab es dazu die passenden Redensarten: »Trautes Heim, Glück allein« oder »Daheim bin ich König.« Dieses Prinzip herrscht seit langem vor. Nach allem, was in Cleveland passiert ist, müßte das heute indes eher so lauten: »Daheim bin ich Kerkermeister.« Aber ich schweife ab.
Cleveland hat mehr mit uns zu tun, als wir uns selbst eingestehen wollen. Ganz im Stillen hat dort ein Riesenskandal auf kleiner Flamme lange Zeit unerkannt vor sich hingeköchelt, so daß selbst diese Ungeheuerlichkeit fast schon normal erscheint. So »normal« wie Zehntausende andere Fälle, über die kaum berichtet wird, nämlich die Fälle der Frauen im Militär, die von ihren Kameraden sexuell belästigt und vergewaltigt werden – von Soldaten in der US-Armee, der Luftwaffe und Marine und von ihren Offizieren. Vielleicht stellen einige dieser Gewaltakte einen persönlichen Vertrauensmißbrauch dar, wie der Mißbrauch, den ein Vater an seiner Tochter begeht, aber im Militär, in das junge Frauen mit der Illusion einer dort gelebten »Kameradschaft« gehen, wird ihr Vertrauen von ihren »Brüdern in Uniform« mißbraucht, und dann werden sie obendrein noch von ihren Offizieren angemacht, die es ihnen übelnehmen, wenn sie diese sexuellen Übergriffe anzeigen.
Wir leben in einer Vergewaltigungskultur. Wer könnte auch leugnen, daß eine der Grundlagen dieses Landes die Freiheit des weißen Mannes war, afrikanische und indigene Frauen zu vergewaltigen? Jahrhundertelang galt das nicht als Verbrechen! Warum sollte es uns überraschen, daß dieses Gewaltverhältnis zu Frauen so tief in der männlichen Kultur der USA verankert ist? Donald Matthews, afroamerikanischer Professor für religiöse Studien an der Naropa University in Boulder, Colorado, und Autor des Buches »Honouring the Ancestors« (»Die Ahnen ehren«) prägte den Begriff »rapetalistic«, um die beiden sich bedingenden Kräfte »rape« (vergewaltigen bzw. rauben oder plündern) und »capitalism« zusammenzubringen, die für den US-amerikanischen Drang stehen, alles zu erobern und auszubeuten, mit dem man in Berührung kommt: Frauen, Land, Natur, Nichtweiße. Von Cleveland nach Irak ist es im Grunde genommen nur ein kleiner Schritt.
Übersetzung: Jürgen Heiser