Kolumne # 699 vom 17.05.2014: Nachrichten und Skandale

17.05.14 (von maj) Wie Schlagzeilen gemacht und Wahrheiten verschwiegen werden

Mumia Abu-Jamal * junge Welt Nr. 114 – 17./18. Mai 2014

Ende April lösten Äußerungen des Milliardärs Donald Sterling, der ganz nebenbei auch Besitzer des US-Basketballklubs Los Angeles Clippers ist, weltweit einen Sturm der Entrüstung aus. Während einer verbalen Auseinandersetzung mit seiner Geliebten soll er sich wütend über ihre vermeintlichen Affären mit schwarzen Athleten ausgelassen haben. Der Skandal wurde sofort zur Topstory auf allen Kanälen und schaffte es überraschenderweise sogar, Meldungen über das Verschwinden der Passagiermaschine der Malaysia Air­lines auf Platz zwei der Schlagzeilen zu verdrängen.
Parallel wurde die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs der USA bekannt, die besagt, daß US-Bundesstaaten nicht gegen die Verfassung verstoßen, wenn sie in Referenden über das Zusammenstreichen von »Affirmative Action«-Bildungsprogrammen abstimmen lassen. (Diese in der Folge der schwarzen Bürgerrechtsbewegung entwickelten Maßnahmen sollten bewirken, daß bislang diskriminierte nichtweiße Bevölkerungsgruppen bei der Besetzung von Ausbildungs- und Arbeitsplätzen bevorzugt werden; jW) Die Meldung über diese Gerichtsentscheidung schaffte es am 22. April gerade einmal in die Mittagsnachrichten, und nur wenige Sender fanden sie überhaupt erwähnenswert. Folglich war sie am nächsten Tag schon wieder Schnee von gestern.
Da drängt sich die Frage auf, welche der beiden Geschichten wohl die meisten Schwarzen betrifft – die über einen reichen alten Kerl, der von Unsicherheit geplagt wird und versucht, die Kontrolle über seine hübsche junge Geliebte zu behalten? Oder jene über die Haltung einer Mehrheit der Richter am US-Supreme Court, die mit ihrer Entscheidung zur Beendigung der Bildungsprogramme der »Affirmative Action« beitragen und damit vielen potentiellen schwarzen Collegestudenten die Tür vor der Nase zuschlagen?
Die Geschichte aus der National Basketball Association (NBA) über den wohlhabenden Besitzer eines ihrer Vereine, der Streit mit seiner afrolateinamerikanischen Geliebten hatte, wurde deshalb zu einem Schlager im Nachrichtengeschäft, weil sie die drei wesentlichen Momente Geld, Sex und »Rasse« enthält. In Wirklichkeit ist der Skandal jedoch nur ein Sturm im Wasserglas, der dafür steht, wie Privatsphäre zerstört wird. Was Sterling vorgeworfen wird, tangiert nur wenige Menschen, zeigt vielmehr die neueste Form des Voyeurismus, die erst durch die Allgegenwart der Mobiltelefone möglich wurde.
Der vom Obersten Gerichtshof gleichzeitig entschiedene Fall »Schuette gegen The Coalition to Defend Affirmative Action« hingegen hat rein gar nichts mit Sex zu tun, dafür aber viel mit Rassismus. Er ist der Beweis dafür, daß die Mächtigen gerade jenen das Wissen vorenthalten wollen, die sich Bildung ohne staatliche Förderung nicht leisten können. Und es ist wohl keine Frage, wer davon betroffen sein wird.
Die Juraprofessorin Michelle Alexander äußerte sich in ihrem zum Klassiker gewordenen Buch »The New Jim Crow« kritisch über die schwarze Oberschicht und ihren Deal mit dem damaligen US-Präsidenten Bill Clinton. Damit hatte ihm das schwarze Establishment freie Hand bei der Verschärfung der Strafgesetze eingeräumt, solange er die Regelungen über die »Affirmative Action« nicht anrührte. Dieser Deal ist nun aufgekündigt worden.
Auf der einen Seite löst ein Mann mit seinem öffentlich gewordenen rassistischen Geschwätz Entrüstungsstürme aus. Auf der anderen entwirft eine hochrangige Institution der US-Regierung kaltblütig einen Fahrplan für die Rückkehr zur staatlichen Ausgrenzung, so daß die Träume von Generationen zerschlagen werden. Welche Handlung ist von größerer Bedeutung? Und welche davon ist letztlich rassistischer?

Übersetzung: Jürgen Heiser


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Stand: 24.11.2024 um 01:49:24 Uhr