Mumia Abu-Jamal * junge Welt Nr. 177 – 2./3. August 2014
Seit einiger Zeit habe ich die Medienberichte über den wachsenden Haß verfolgt, der sich gegen die Flüchtlingskinder aus Mittelamerika richtet, weil sie versuchen, die Grenze zwischen Mexiko und den USA zu überqueren. Da waren Stimmen von US-Amerikanern zu hören, die vor Erregung überschnappten, als sie für die sofortige Deportation dieser Kinder Radau machten. Widerliche Wörter kamen diesen Leuten über die Lippen, und die harmlosesten waren noch, daß sie die Flüchtlingskinder als »Eindringlinge«, »krank« und »schmutzig« beschimpften.
In Wahrheit wollen diese Flüchtlinge jedoch Not und Krieg entkommen. Die Situation in ihren Heimatländern ist ein Ergebnis der US-Interventionen zur Unterstützung mörderischer Militärdiktaturen und Folge des sinnlosen Drogenkrieges. Diese Flüchtlinge sind die Kinder des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens NAFTA und damit einer Wirtschaftspolitik, die Mexiko und seine Nachbarländer im Interesse habgieriger US-Unternehmen ausbluten läßt. Wenn man sich das klar macht, ist die Feindschaft, die diese Kinder jetzt zu spüren bekommen, einfach nur noch bestürzend.
Sie ruft Erinnerungen wach an eine Zeit während des Zweiten Weltkriegs, als 1939 im US-Kongreß ein Gesetzentwurf eingebracht wurde, der den rechtlichen Boden für das Asyl Tausender jüdischer Kinder aus Deutschland bereiten sollte. Dieses »Wagner-Rogers-Gesetz« hätte 20000 Kinder, die damals noch in Deutschland lebten, retten können, aber US-Präsident Franklin Delano Roosevelt lehnte das Gesetz ab – und so verschwand es schon bald wieder. (Eine bestehende Quotenregelung sah vor, daß bis 1938 rund 26000, danach 28000 deutsch-jüdische Kinder pro Jahr hätten einreisen können. Doch nur während eines der zwölf Amtsjahre Roosevelts wurde die Quote voll ausgeschöpft, zumeist weniger als zu einem Viertel. Das Gesetz hätte 20000 Kindern unter 14 Jahren zusätzlich über die Quote hinaus den Weg in die USA geebnet; d.Red.)
Faktisch waren viele Mitglieder der US-Elite gegen das Gesetz, auch Roosevelts Cousine Laura Delano Houghtelling. Sie war die Ehefrau des Leiters der Einwanderungsbehörde, der den Einwand vorbrachte, »aus 20000 bezaubernden Kindern werden viel zu schnell 20000 häßliche Erwachsene«.
Der primitive Rassismus, der hinter dieser Aussage steckt, zeigt die ganze Häßlichkeit, zu der US-Amerikaner fähig sein können. Es wird der Tag kommen, an dem wir zurückschauen und uns erinnern, wie die heutigen Flüchtlingskinder behandelt wurden. Und darauf können wir alles andere als stolz sein.
Die Raserei, die politische und soziale Angst, zu der die Leute von kleinkarierten, karrieregeilen Politikern aufgestachelt werden, wird vorübergehen. Bleiben wird aber unsere Scham darüber, wie eine Nation, die für sich soviel Größe geltend macht, gleichzeitig so klein sein kann – und so grausam.
Übersetzung: Jürgen Heiser
Siehe zu diesem Thema auch die Fotoreportage in der »junge Welt«-Wochenendbeilage:
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