Kolumne # 745 vom 30.03.2015: Zweierlei Maß

30.03.15 (von maj) In Oklahoma belegte man junge Leute, die über keinerlei Macht und Einfluss auf dem Campus verfügen, mit der schwersten Strafe, dem Verweis von der Hochschule. In Missouri verschwören sich Politiker und Polizisten zur kriminellen Ausplünderung der Bevölkerung und lassen Menschen, die ohnehin zu den Ärmsten gehören, ausbluten – und nicht ein einziger Verantwortlicher wird dafür gefeuert

Mumia Abu-Jamal * Link zum Artikel in junge Welt Nr. 75 vom 30. März 2015: Bitte HIER klicken![1]

Zweierlei Maß
Die Studentenverbindung »Sigma Alpha Epsilon« (SAE) gehört zu den größten in den USA. Das Kürzel steht für drei griechische Wörter, die übersetzt »Immerwährender Bund von Brüdern« bedeuten. Von allen heute existierenden Verbindungen ist die 1856 in Alabama gegründete SAE die einzige, die vor dem Amerikanischen Bürgerkrieg in einem der Sklavenhalterstaaten entstand. Mitte März wurde die SAE nun zur wahrscheinlich bekanntesten Verbindung des Landes – aus den denkbar schlechtesten Gründen. Anlass war das Verbot ihres Ablegers auf dem Campus der University of Oklahoma in Norman – aus nicht minder schlechten Gründen. Was auch immer im nachhinein als Anlass dafür angegeben wurde, der Oklahoma-Ableger der SAE wurde verboten, weil sich ein paar Mitglieder beim Absingen eines rassistischen Liedes filmen ließen und es der Universitätsleitung peinlich war, dass dieses Video in die Öffentlichkeit gelangte. Punkt.
Was war passiert: Ein paar weiße Collegestudenten im Teenageralter hatten auf einer Busfahrt den Sprechgesang »Bei uns machen keine Nigger mit, sie können an Bäumen hängen, aber niemals bei uns mitmachen« intoniert. Als das Video bekannt wurde, feuerte die Hochschulleitung zwei von ihnen und ließ das Verbindungshaus auf dem Campus schließen.
Im benachbarten Bundesstaat Missouri war zuvor bekannt geworden, dass die fast nur aus Weißen bestehende Polizei zusammen mit Justiz und Stadtverwaltung der Kleinstadt Ferguson die schwarze Bevölkerungsmehrheit unterdrückt und ausbeutet, indem sie ihr durch willkürliche Geldbußen und Gebühren Millionen US-Dollar abpresst. Ganz zu schweigen davon, dass die Polizei dort auch Afroamerikaner willkürlich totschoss. Und wer wurde deshalb gefeuert? Niemand. Oh ja, es gab ein paar »Rücktritte im Einvernehmen«, aber niemand wurde fristlos entlassen!
Es zeigt sich also, dass in den beiden Fällen mit zweierlei Maß gemessen wurde. In Oklahoma belegte man junge Leute, die über keinerlei Macht und Einfluss auf dem Campus verfügen, mit der schwersten Strafe, dem Verweis von der Hochschule. In Missouri verschwören sich Politiker und Polizisten zur kriminellen Ausplünderung der Bevölkerung und lassen Menschen, die ohnehin zu den Ärmsten gehören, ausbluten – und nicht ein einziger Verantwortlicher wird dafür gefeuert. Was ist schlimmer: Das Singen rassistischer Lieder – oder rassistisches Handeln, das Tausenden Menschen jahrelang Schaden zufügt?
Die im Jahr 1890 gegründete University of Oklahoma hätte den Vorfall mit der Studentenverbindung in eine lehrreiche Erfahrung darüber verwandeln können, wie rassistisches Gedankengut von einer Generation an die nächste weitergegeben wird und wie geschlossene Systeme von Gruppen dieses Denken bewahren. Statt also das Vorhandensein dieses Gedankenguts zu leugnen, hätte die Universitätsleitung ihre Historische Fakultät anweisen können, in Lehrveranstaltungen die Wurzeln rassistischen Denkens in der Geschichte der USA und Oklahomas zu erkunden. Sofern es an dieser Hochschule einen Lehrstuhl für afroamerikanische Studien gibt, hätte dieser damit glänzen können, ein spezielles Studienprogramm für SAE-Mitglieder anzubieten.
Aber zuallererst einmal hätte der erste Artikel der US-Verfassung auf freie Meinungsäußerung verteidigt werden und die dunkle Macht rassistischen Hasses mit dem hellen Licht der Vernunft aus den Hörsälen vertrieben werden müssen. Statt dessen wurden zwei junge Collegestudenten vielleicht für ihr Leben als »Rassisten« gebrandmarkt, nur weil sie betrunken, dumm und gemein waren. In ihren Seelen wird sich Verbitterung breitmachen, sobald der Schock über den Rausschmiss nachlässt.
Vor allem Hochschulen sollten nicht voreilig handeln, nur um ihr Ansehen in der Öffentlichkeit zu wahren. Sie müssen vielmehr ihre Möglichkeiten ausschöpfen, um das Bewusstsein aller Studenten durch Lehre und Aufklärung zu erweitern. Selbst und vor allem bei denen, die gern Lieder über das Lynchen von Schwarzen singen.

Übersetzung: Jürgen Heiser


Links im Artikel: 1
[1] https://www.jungewelt.de/2015/03-30/009.php

Ausdruck von: http://freedom-now.de/news/artikel1222.html
Stand: 24.11.2024 um 01:39:40 Uhr