Link zum Artikel in der Beilage zur Rosa-Luxemburg-Konferenz »Sozialistische Alternativen erkämpfen« in junge Welt Nr. 12 vom 14./15. Januar 2017: Bitte HIER klicken![1]
Die Zeit läuft ab
Mitte Juli 2015 richtete die Bürgerrechtsorganisation NAACP in der US-Ostküstenstadt Philadelphia ihren Jahreskongress aus. Afroamerikanische Aktivistengruppen nutzten damals die Gelegenheit, US-Präsident Barack Obama in einem Aufruf daran zu erinnern, dass die US-Gefängnisse »nicht nur wegen Drogendelikten mit 2,3 Millionen Menschen zumeist nichtweißer Hautfarbe überbelegt sind, von denen viele als die neuen Sklaven in den Anstaltsfabriken Zwangsarbeit leisten müssen«. In den USA gebe es vielmehr auch Gefangene, die wegen ihrer politischen Überzeugungen bis an ihr Lebensende hinter Gittern schmoren sollen.
Obama hatte bis zu diesem Zeitpunkt laut USA Today bereits die Strafen von 89 Verurteilten reduziert und 64 weiteren die Reststrafe völlig erlassen. Wenige Tage vor dem NAACP-Kongress, auf dem er eine Rede hielt, reduzierte er die Haftdauer von weiteren 46 Männern und Frauen, von denen einige wegen Drogendelikten zu lebenslangem Gefängnis verurteilt worden waren. Die Strafen seien in allen Fällen zu hoch gewesen, erklärte Obama, weshalb diese Leute »eine zweite Chance verdient« hätten.
Am 30. Dezember 2016 geschah Ungewöhnliches auch im US-Bundesstaat New York. Gouverneur Andrew M. Cuomo von den Demokraten gab die Begnadigung von rund 100 Häftlingen bekannt. In Erstaunen versetzte die Öffentlichkeit nicht nur »die höchste Zahl von Gnadenakten durch einen Gouverneur in der Geschichte des Staates«, wie es ein Sprecher der Justiz laut New York Times ausdrückte. Besonderes Aufsehen erregte der Fall einer Gefangenen, deren vorzeitige Haftentlassung seit Jahren mächtige Polizeiorganisationen verhindert hatten. Judith Clark war 1983 in New York verurteilt worden, weil sie zwei Jahre zuvor als Fluchtwagenfahrerin am Überfall auf einen Geldtransporter beteiligt gewesen sein soll, bei dem mehrere Menschen getötet wurden. Die aus schwarzen und weißen Antiimperialisten bestehende Stadtguerillagruppe »Revolutionary Armed Task Force« (»Revolutionäre Bewaffnete Einsatzgruppe«), der Clark angehörte, wollte mit der Beute aus der »Enteignungsaktion« die politische Arbeit der schwarzen Freiheitsbewegung zum Aufbau einer »Republik Neues Afrika« in den Südstaaten der USA unterstützen. Im Prozess ließ der Vorsitzende Richter keinen Zweifel daran, dass er die wegen Raubes und Beihilfe zum Mord angeklagte Clark bis an ihr Lebensende einsperren wollte.
35 Jahre davon hat die heute 67jährige Gefangene inzwischen abgesessen. Einen Antrag auf Entlassung zur Bewährung dürfte sie laut Urteil jedoch erst 2056 stellen, im Alter von 107 Jahren also. Da Gouverneur Cuomo offenbar zu dem recht überschaubaren Kreis von Entscheidungsträgern in Politik und Justiz der USA gehört, die der völligen Überfüllung der US-Gefängnisse entgegenwirken wollen und auch bei »Politischen« für Einzelfallprüfungen sind, reduzierte er Clarks Strafe auf »35 Jahre bis lebenslänglich«. Damit ist sie ab sofort berechtigt, ihre vorzeitige Entlassung zu beantragen. Sie könnte also bald freikommen, wenn die zuständige Bewährungskommission dem zustimmt. Einzelne ihrer Mitglieder hätten das schon signalisiert, erklärte Cuomo vor der Presse.
Seine Entscheidung, eine politische Widersacherin wie Clark in seinen Gnadenakt einzubeziehen, hat sicher den Hintergrund, dass es in den USA heute keine Stadtguerillagruppen wie in den 1960er bis 1980er Jahren mehr gibt. Cuomo erklärte zudem bereits, einen solchen Gnadenakt nicht wiederholen zu wollen. Schaut man sich jedoch die Situation weiterer politischer Gefangener an, die es in den USA noch zu Dutzenden aus dieser Zeit gibt, kommt noch ein weiterer Grund in Betracht, warum gerade Judith Clark die »Rückkehr in die Gesellschaft« ermöglicht werden soll: Sie ist eine Weiße.
Anders läuft es bei den Militanten, die aus den afroamerikanischen Freiheitsbewegungen der Black Panther Party und Black Liberation Army, aus dem American Indian Movement (AIM) der indigenen Ureinwohner und aus der puertoricanischen Unabhängigkeitsbewegung kommen. Auch wer als Whistleblower eingesperrt wurde, weil er »Staatsgeheimnisse« preisgab, um die Öffentlichkeit über Machenschaften der Geheimdienste oder über US-Kriegsverbrechen zu informieren, kann kaum auf eine vorzeitige Entlassung hoffen. Bislang scheiterten fast alle Versuche, diese politischen Gefangenen auf dem Gnadenweg freizubekommen. Nicht Einzelfallprüfung, sondern Rache an diesen oppositionellen Kräften ist das vorherrschende Motiv staatlicher Politik.
Anders ist es nicht zu erklären, dass der heute 66jährige Afroamerikaner Mutulu Shakur, den die US-Bundespolizei FBI 1986 verhaftete, nicht freikommt. Shakur war ein bekannter und geschätzter Akupunkturarzt, der in Kalifornien und New York vor allem junge schwarze Drogenabhängige behandelte. Mangels konkreter Beweise wurde Shakur nach Bundesgesetz wegen »Verschwörung zu bewaffneten Banküberfällen« zu »60 Jahren bis lebenslänglich« verurteilt. Achtmal hat die Bewährungskommission die Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung bereits abgelehnt. Und obwohl er seit Februar 2016 gesetzlich zur »obligatorischen Freilassung auf Bewährung« vorgesehen war und eine Beschwerde seines Anwalts läuft, ist Shakur noch immer in Haft.
Hier kommt Präsident Obama ins Spiel, dem auch im Fall Shakur ein von vielen Einzelpersonen und Menschenrechtsgruppen unterstütztes Gnadengesuch vorliegt. Das Gnadenrecht steht Obama in Fällen zu, in denen Angeklagte wie Shakur nach Bundesgesetzen verurteilt wurden. Längst überfällig wäre auch die Freilassung anderer politischer Gefangener, die ebenfalls mit Urteilen nach Bundesgesetzen sitzen und inzwischen oft schwer erkrankt sind, so dass sie schon aus humanitären Gründen freikommen müssten.
Leonard Peltier wurde als Anführer des American Indian Movement zu zweimal lebenslänglich verurteilt. Der heute 72jährige sitzt seit 40 Jahren in Haft. Der puertoricanische Unabhängigkeitskämpfer Oscar López Rivera wurde zu 70 Jahren verurteilt und ist seit 35 Jahren eingesperrt. Die ebenfalls puertoricanische Whistleblowerin Ana Belén Montes hatte Informationen an das revolutionäre Kuba weitergegeben und wurde deshalb 2002 zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt. Seit 15 Jahren isolieren sie die Behörden von der Außenwelt. Chelsea (früher: Bradley) Manning enthüllte über die Internetplattform Wikileaks Kriegsverbrechen der USA im Irak. Dafür wurde sie zu 35 Jahren Gefängnis verurteilt und sitzt seit sechs Jahren in US-Militärhaft.
Der scheidende US-Präsident hätte das Recht, vor Übergabe seines Amtes an seinen Nachfolger Donald Trump am 20. Januar in diesen wie in vielen anderen Fällen Begnadigungen auszusprechen. Dazu müsste er sich jedoch gegen die Rachsucht der herrschenden Justiz und den Fanatismus rechter Lobbygruppen des Polizei- und Gefängnisapparats durchsetzen. Die Frage ist deshalb berechtigt, ob sich sein «Yes we can« auch in dieser Sache als hohle Parole erweist. Die Zeit läuft ab.
Jürgen Heiser