Link zum Artikel in junge Welt Nr. 102 vom 2./3. Mai 2020: Bitte HIER klicken![1]
»In Wahrheit hat die KP viel zu wenig Einfluss«
Gespräch. Mit Denis Goldberg. Über den ANC, Vetternwirtschaft, Kapital und Arbeit in Südafrika und den Fall des Präsidenten Jacob Zuma
Link zum Interview in junge Welt vom 28. Mai 2016: Bitte HIER klicken![2]
»Mandelas Vermächtnis präsent«
Kurzbericht über den Auftritt Denis Goldbergs auf der 19. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11. Januar 2014 in Berlin:
Link zum Artikel in junge Welt vom 11. Januar 2014: Bitte HIER klicken![3]
Beitrag von Denis Goldberg auf der XIX. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz
Guten Morgen, Genossen und Freunde. Diejenigen, die Freunde sind, werden hoffentlich später Genossen.
Ich habe eine Aufgabe übernommen, die eigentlich eine Reihe von Vorträgen erforderlich machen würde, nämlich über die imperialistischen Kriege und Afrika zu sprechen. Wenn man sich meinen Trip von Capetown nach Berlin vergegenwärtigt – ich glaube, zehn der zwölf Stunden bin ich über Afrika geflogen, und nur zwei Stunden über das Mittelmeer und Deutschland – , dann kann man sagen, daß Afrika sehr groß ist, ein großer Kontinent. In Europa wissen die Leute, daß Afrika ein Kontinent mit schwarzer Bevölkerung ist, und sie glauben, daß alle Schwarzen gleich denken, weil sie eben schwarz sind. Das ist absurd und Teil des Rassismus und entspricht genau der Art, wie Europäer und Amerikaner, die die Geschichte der Welt geschrieben haben, mit uns sprechen und versuchen, Dinge zu erklären. Daß es Differenzen zwischen Afrikanern, unterschiedliche Interessen, verschiedene Klimazonen, verschiedene Bodenschätze und verschiedene Möglichkeiten gibt, scheint für Europäer keine Rolle zu spielen. Und deswegen sagen wir in Afrika: Das ist ein ganz schöner Haufen von Rassisten!
In Europa würde niemand so über Kriege von Weißen gegen Weiße in Deutschland oder in Europa reden, nicht über den dreißigjährigen Krieg, den sechzigjährigen Krieg, den Ersten Weltkrieg und auch nicht den Zweiten Weltkrieg. Weil es nicht mit einfachen ethnischen Begriffen zu erklären ist, als wenn die Hautfarbe und das Gehirn miteinander verbunden wären. Ihr versteht sicher, daß ich in dieser Frage ein wenig leidenschaftlich argumentiere.
Mir geht es jetzt zuerst darum, bezüglich der beiden Überschriften »imperialistische Kriege« und »Afrika« einen Unterscheidung deutlich zu machen. Ich bin zwar ein Gegner imperialistischer Kriege in Afrika, Asien, Lateinamerika und sonst wo. Aber ich bin kein Gegner von Befreiungskriegen. Das wäre auch absurd, weil ich die Waffen für unsere Untergrundarmee besorgt habe. Oder besser gesagt, ich hätte es gemacht, wenn ich nicht zu früh verhaftet worden wäre. Warum bin ich für Befreiungskriege? Weil ich an Gerechtigkeit glaube, weil ich an Gleichheit glaube, und weil ich glaube, daß es Zeiten gibt, in denen Tyrannen im Interesse von Frieden und Gerechtigkeit gestürzt werden müssen. Aber nicht, weil ich Krieg und Gewalt liebe. Sie liegen mir überhaupt nicht.
Irgendwo muß ich beginnen. Ich könnte zum Beispiel mit der kolonialen Eroberung um das 14., 15. Jahrhundert herum anfangen, dem Sklavenhandel. Hunderttausende oder Millionen von Menschen sind auf der Mittelpassage gestorben, damit Amerika erbaut und Europa durch den Dreieckshandel reich werden konnte. Ich will aber mit der Berliner Konferenz beginnen, die am Ende des 19. Jahrhunderts stattfand. Die Großmächte Britannien, Frankreich und Deutschland zerstückelten Afrika, um sich der Kolonien zu bemächtigen. Interessant daran war, daß der Kapitalismus eigentlich freier Arbeitskräfte bedarf. Er bedarf auch einer Art von Demokratie, so sagt man, aber wenn es um Afrika geht, dann wurden afrikanische Länder, Menschen und Bodenschätze wie Waren behandelt, mit denen man Handel betreibt. Durch die Berliner Konferenz und andere Verträge wurde eine Art von internationalem Recht geschaffen, das auf der Vorstellung feudaler Besitzansprüche gegenüber Menschen, Land und Bodenschätzen beruhte. Ziemlich seltsam, wie ich meine, und es zeigt die Unmoral und die rückwärtsgewandte Natur des Kapitalismus und Imperialismus, wenn man sich vor Augen hält, daß der Mensch der Schlüssel zu allem ist. Das entspricht aber nicht dem Denken von Kapitalisten und Imperialisten. Sie interessiert nur der Profit.
Die Berliner Konferenz war der Versuch, Krieg und Konflikte zwischen diesen Mächten abzuwenden, weil jede von ihnen dringend auf der Suche nach Märkten, Rohstoffen und billigen Arbeitskräften war, um ihr System in Gang zu halten. Der englische Historiker und Ökonom John Hobson schrieb 1902 sein Buch »Imperialism – A Study«. Er stellte die Statistiken auf, in denen er den Handel der Großmächte, die Akkumulation des Kapitals und die Verschmelzung der kapitalistischen Banken mit dem Industriekapital darstellte. Mit den im 19. Jahrhundert entwickelten innovativen Technologien und Fertigkeiten konnten sie sehr viel produzieren, aber sie hatten dafür keine Absatzmärkte. Wo also sollte man neue Märkte finden? In den Kolonien. Wo befanden sich die Rohstoffe? In den Kolonien. Wo wären die Umschlagplätze für ihr Kapital zu finden? In den Kolonien. Anstatt also Waren, Industriegüter zu exportieren, machten sie sich daran, auch das Kapital zu exportieren. Lenin nannte es das Finanzkapital.
Wenn man einer Kolonie Geld leiht – egal ob es sich dabei Indien, Nigeria, Südafrika oder irgendeine andere Kolonie handelt –, dann deshalb, weil man sie dadurch in die Lage versetzt, Waren zu kaufen. Die Kapitalisten machen in ihrem Heimatland Profite damit, Waren zu verkaufen. Und dann geht man hin, gibt der Kolonie einen Kredit, damit sie die Waren bezahlen kann, und schlägt noch zusätzlichen Profit aus den Kreditzinsen. Und oft genug kamen die Kredite gar nicht in den Zielländern an, sondern verblieben im Heimatland als Bezahlung für Eisenbahnschienen, Lokomotiven, Waggons und Signalausrüstungen, die sie in die Lage versetzten, weiter in diese Länder vorzudringen.
Seltsam, daß das heute noch genauso läuft. Das ist euch sicher schon aufgefallen. Deutschland hat Griechenland Milliarden an Krediten gegeben, damit Fregatten und U-Boote bezahlt werden können, die Griechenland überhaupt nicht braucht. Von diesen Krediten ist nichts in Griechenland angekommen, deshalb sagt man, wenn es um das Finanzkapital geht: Je mehr sich die Dinge verändern, desto mehr bleiben sie wie sie sind. Lenin hat das als die Periode des Monopolkapitals definiert, in der die Welt zwischen Unternehmen aufgeteilt wird. In den USA schafft heute ein Prozent der Bevölkerung 20 Prozent des Nationaleinkommens nach Hause. Ein Prozent – könnt ihr euch das vorstellen? Wie ist das proportionale Verhältnis in Deutschland zwischen dem Reichtum der Minderheit und der offenkundig sich verschlechternden Lage der arbeitenden Menschen? Diese Muster setzen sich fort, und in Afrika noch sehr viel heftiger.
Deshalb müssen wir die Frage stellen: Was hat es damit auf sich? In den imperialen Kriegen geht es um Ausbeutung und Kontrolle. Ich habe schon gesagt, daß es bei der Berliner Konferenz um den Versuch ging, den Krieg abzuwenden und eine Art von Vergleich zwischen den Weltmächten zu erreichen. Um noch ein Beispiel zu nennen: Frankreich schickte seine Truppen nach Marokko, um einen Aufstand niederzuschlagen. Das war ein Verstoß gegen internationale Verträge, weshalb Deutschland Kriegsschiffe, darunter ein Kanonenboot namens »Panther«, nach Agadir entsandte. Es kam zu einer Konfrontation zwischen Frankreich und Deutschland, der sich beinahe zu einem Krieg um die Kolonien ausgeweitet hätte. Der Konflikt wurde beigelegt. Aber wie geschah das? Frankreich blieb mit seinen Truppen in Marokko und trat dafür einen Teil seiner Kolonie Kongo an Deutschland ab. Die Bevölkerung im Kongo wurde natürlich nicht gefragt. Das Land, die Menschen und die Bodenschätze wurden einfach weitergereicht.
Wie wir wissen, wurde der Krieg dadurch nicht verhindert, letzten Endes brach er aus. Es heißt, der Mord an Erzherzog Ferdinand von Österreich sei der Auslöser gewesen, in Wahrheit wurden die ersten Schüsse jedoch in Togo und in Daressalam in Ostafrika abgefeuert, als die Briten vorhatten, die Marinestützpunkte der deutschen Kriegsmarine zu verminen. Denn zu jener Zeit, beim damaligen Stand der Technik, ging es darum, Kontrolle und Macht über die Welt durch mächtige Kriegsflotten zu erlangen. Und wenn man keine Bekohlungsanlagen hatte, konnten die Schiffe nicht auslaufen. Das war in Wirklichkeit der Beginn des Ersten Weltkriegs. Der Konflikt ging also darum, daß europäische Mächte im Interesse ihrer herrschenden Klasse und des Monopolkapitals nach Kontrolle und Macht strebten. Und die afrikanischen Völker zahlten den Preis dafür.
Die Zahl der Soldaten, die im Ersten Weltkrieg rekrutiert wurden und starben, war gewaltig groß. Die Briten rekrutierten massenhaft Soldaten, beriefen sie massenhaft ein. Und viele starben, die nicht nur in Europa kämpften, sondern auch in Afrika. Dieser europäische Krieg tobte auch in Ostafrika, in Westafrika, in Südwestafrika, dem heutigen Namibia, als die Europäer darum kämpften, wer künftig die Welt kontrollieren wird. Für die aus Afrika stammenden Soldaten waren die Folgen furchtbar. Sie erhielten sowieso nur geringen Sold, starben nicht nur im Krieg, sondern auch durch Krankheiten und die Klimabedingungen. Man stelle sich vor, vom tropischen Westafrika nach Europa verlegt zu werden, um dort im Winter in Eis und Schnee ohne angemessene Ausrüstung Krieg zu führen. Und dann bekommt man auch noch zu hören, man sei kein guter Soldat. Warum sollen Menschen für Menschen kämpfen, die sie nicht respektieren? Es sei denn, sie würden bestraft, wenn sie sich weigern zu kämpfen?
Der Verlust an Menschenleben in diesem Krieg war so hoch wie der Verlust an physisch starken und leistungsfähigen Menschen während des Sklavenhandels. In Afrika sind die Nachwirkungen noch nach vielen Generationen zu spüren. Aber gleichzeitig warfen die afrikanischen Völker die Frage auf, warum sollen wir das alles erleiden, warum sollen wir uns ausbeuten lassen? Daraus erwuchs eine panafrikanische Bewegung, zuerst angeführt von W.E.B. DuBois, einem US-amerikanischen Marxisten, der 1806 die erste Konferenz nach London einberief. Danach gab es eine ganze Reihe von Konferenzen, die immer stärker die Forderung nach gleichen Rechten erhoben. Kriege und Ausbeutung liefen währenddessen weiter. Ihr habt sicher schon davon gehört, daß Joseph Conrad, ein polnischen Kapitän, der sich in England niederließ und von dem einige der wunderbarsten Bücher stammen, einen Roman über den Kongo geschrieben hat, in dessen Titel er das Land »Herz der Finsternis« nennt. Dort wütete der Imperialismus, als Belgien unter König Leopold den Kongo übernommen hatte, mit äußerster Brutalität.
Heute sehen wir, welche Konsequenzen das alles für den Kongo hatte, dessen Bevölkerung gespalten ist, gebrochen, demoralisiert und eine Gruppe gegen die andere kämpft Und es ist kein Ende in Sicht. Das Land ist immer noch ein »Herz der Finsternis«. Leider ist es nicht so, daß sich daran durch die Befreiung der Länder Afrikas nach dem Zweiten Weltkrieg etwas geändert hätte. Auch dieser Krieg wurde in Afrika, in Asien und in weiten Teilen der Welt geführt, um diese immer noch offenen Rechnungen der Imperialisten im Kampf um Kontrolle und Macht zu begleichen. Und heute geht das indirekt so weiter. Die Ausbeutung dauert fort.
Wie ihr wißt, komme ich aus Südafrika. Wir waren die letzte der Kolonien, die befreit werden mußte im wahrsten Sinne des Wortes. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es eine große Zahl von Ländern – Ghana, Nigeria, Kenia und viele mehr –, die ihre Freiheit erkämpft hatten. Und dann kam die Zeit des Neokolonialismus, und sie wurden wieder durch das Finanzkapital ausgebeutet: Erst leihen wir euch Geld, dann zwingen wir euch zu zahlen. Dabei bringen euch die Produkte, die ihr uns verkauft, weniger ein als die Zinsen, die ihr an uns zahlen müßt. Und eure Länder werden ärmer und ärmer und ärmer. Das ist die heutige Realität in Afrika.
Um wieder zu meinem Punkt Südafrika zurückzukommen: Die Briten brauchten hundert Jahre, um Südafrika, das südliche Afrika zu erobern. Bis 1906 leistete die Bevölkerung Widerstand, als der Zulu-Häuptling Bambata hingerichtet wurde. Die Briten, zivilisiert wie sie nun mal sind, schlugen ihm den Kopf ab und stellten ihn demonstrativ vor der Landbevölkerung aus, um den Leuten klarzumachen, daß es für sie besser ist, sich nicht mit dem britischen Imperialismus und seinem Finanzkapital anzulegen. Die Konsequenz daraus war die Gründung des African National Congress (ANC). Die schwarzen Südafrikaner gaben nicht auf, sie wollten endlich frei sein, und dazu mußten sie sich organisieren. Sie nahmen den politischen Kampf auf und verlangten nach Unabhängigkeit.
Ich mache jetzt einen Sprung zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Als sich Churchill und Roosevelt trafen, um die Kriegsziele der Westalliierten gegen Nazi-Deutschland und die Achsenmächte einschließlich Italiens und des militaristischen Japan zu verkünden, und erklärten, die Ziele seien das Ende des Kolonialismus und gleiche Rechte für alle Menschen, da meinten sie das nicht wirklich ernst, aber sie sagten es, weil sie die Unterstützung der Völker in den Kolonien brauchten, die in den Kriegen für sie kämpfen und sterben sollten. Und wer es von den schwarzen Soldaten bis nach Hause schaffte, der bekam ein Fahrrad geschenkt. Weiße Soldaten hingegen erhielten eine Pension, ihre Familien hatten lebenslangen Anspruch auf medizinische Versorgung. Schwarze Soldaten, die starben, bekamen nichts. Für die Rohstoffe, die ihren Ländern genommen wurden, um den Krieg zwischen den westlichen Mächten führen zu können, erhielten sie keine Bezahlung. In den Kolonien wurden Land und Leute ausgeraubt, und die Menschen starben, um den Fortbestand des Kapitalismus zu sichern. In Südafrika aber baute eine Gruppe junger schwarzer Südafrikaner den jungen ANC auf. Ich spreche von Nelson Mandela, Walter Sisulu, Oliver Tambo, von Leuten also, deren Namen für all jene berühmt sind, die sie Geschichte Südafrikas kennen. Diese jungen Südafrikaner sagten, wenn ihr über Gleichheit sprecht, dann wollen wir Gleichheit auch für unsere Leute. Zuerst sagten sie, wir wollen Freiheit für die afrikanischen Völker, und alle anderen müssen das Land verlassen. Aber dann wurde ihnen klar, daß das ja keine Gleichheit wäre. Und deshalb entstand in den reihen des ANC ein bestimmender politischer roter Faden, der 1955 auch seinen Einzug in unsere Freiheitscharta fand und besagt, »daß Südafrika allen gehört, die dort leben, Schwarzen und Weißen« gemeinsam. Das ist äußerst bemerkenswert angesichts der Tatsache, daß die Mehrheit der Bevölkerung unterdrückt wird, über keine politischen Rechte verfügt, sich nicht gewerkschaftlich organisieren darf und dennoch in Tausenden von Sitzungen ihr Programm beibehielt, das schließlich in diese Freiheitscharta mündete, die nicht von ein paar Akademikern oder Politikern geschrieben wurde. Was darin steht, kam als erste politische Kampagne wirklich aus dem Volk. Ich habe als junger Mann daran teilgenommen. Die Menschen in Südafrika zeigten sich wahrhaftig großzügig gegen ihre Unterdrücker, als sie sagten: Wenn ihr die Idee der Gleichheit akzeptiert, dann habt auch ihr einen Ort, an dem ihr leben könnt.
Mit anderen Worten: Es war ein gut durchdachtes Konzept zu sagen, daß wir zwar gegen die weiße Vorherrschaft kämpfen, aber eben nicht gegen Weiße, nur weil sie weiß sind. Schließlich waren wir gegen Rassismus, und wir alle folgten dem Konzept beharrlich bis heute. Deshalb ist das die Position unseres ANC und unserer Verfassung und das, wofür wir immer gekämpft haben.
Die Mehrheit der Südafrikaner, der Schwarzen, einiger Weißer – aber wir sprechen auch von nationalen Minderheiten in bezug auf Kalid und Inder, und so auch von der nationalen Minderheit der Weißen – unterstützen dieses Konzept. Man hätte annehmen können, daß sie auf Vergeltung aus gewesen wären, nach dem Motto, was uns angetan wurde wollen wir auch den anderen antun. Aber wir haben dem widerstanden. Das war nicht einfach, weil es immer Leute gibt, die alles für sich selbst haben und mit niemand teilen wollen.
Mir wurde zusammen mit Nelson Mandela der Prozeß gemacht, es ging um unser Leben. Nelson Mandela erklärte gegenüber dem Gericht, warum er teilgenommen und den bewaffneten Arm des ANC, unsere »Speer der Nation« (Umkhonto we Sizwe ) genannte Befreiungsbewegung mit aufgebaut hatte. Und er beendete seine Erklärung, in der er vier Stunden lang unsere Politik und die Gründe für den bewaffneten Kampf dargelegt hatte, mit dem berühmten Satz, der sinngemäß lautete: Sein ganzes Leben lang habe er gegen die Herrschaft der Weißen gekämpft, auch gegen die Herrschaft der Schwarzen. Sein Ideal, so erläuterte er, sei eine Gesellschaft, in der Menschen in Harmonie zusammenleben können. Er hoffe, so sagte er, noch erleben zu können, wie dieses Ideal erreicht wird. Es ging in diesem Prozeß um unser Leben, ihr versteht. Wenn es sein müßte, so sagte Nelson Mandela zu dem Richter, wäre er aber auch bereit, für dieses ein Ideal zu sterben. Was für ein Augenblick! Was für ein Augenblick von Würde, Stärke und Hingabe! Und das waren nicht nur Worte. Nelson Mandela war ein Führer, der voranging, der im Namen seiner Genossen auf der Anklagebank und aller draußen zu dem Richter sagte: »Hängen Sie mich – er meinte sich, Walter, mich, uns alle –, wenn Sie den Mut dazu haben!«
Was ich davon noch in Erinnerung habe, ist das Gefühle der Zugehörigkeit, diesen Augenblick gemeinsam erlebt zu haben. Das war ein Wendepunkt in meinem Leben, und nicht nur in meinem. Wir erwarteten damals nichts anderes, als gehenkt zu werden, wir sahen kaum eine Chance dort lebend herauszukommen. Wenn man sich bewaffnet gegen einen sehr mächtigen Militärstaat erhebt, dann sind die Überlebensaussichten nicht groß, sie sind wirklich nicht besonders groß. Am Ende sprach uns der Richter wegen Verschwörung zum bewaffneten Sturz der Regierung, Vorbereitung einer militärischen Invasion – weil wir Soldaten im Ausland trainiert hätten, die dann zurückkamen – schuldig.
Ich persönlichn wurde für etwas sehr Schlimmes zur Verantwortung gezogen. Ich hatte einen Volkswagen-Kombi gekauft, um darin meine Genossen unerkannt durch die Gegend fahren zu können. Meine Genossen hinter Vorhängen auf der Ladefläche, alles absolut sicher. Allein wegen des Ankaufs dieses Volkswagen-Kombis bekam ich lebenslänglich. Klar, ich werde nie wieder einen Volkswagen kaufen! Okay, das war ein Scherz. Außerdem warf man mir andere Sachen zur Unterstützung unserer Bewegung vor, Geld spenden usw. Am Ende wurden wir alle gemeinsam in vier Anklagepunkten schuldig gesprochen. Der Richter erklärte, die angemessene Strafe dafür sei die Todesstrafe. Aber, so der Richter weiter, wir seien nicht wegen Hochverrats angeklagt worden, weshalb er es sich erlauben könne, ein wenig Milde walten zu lassen. Ein vorsichtiges Lächeln kam in unsere Gesichter, es sollte ja keine Todesstrafe geben. Und dann verkündete er lebenslänglich für jeden der Anklagepunkte, was für jeden von uns vier lebenslange Haftstrafen bedeutete.
Es ist natürlich klar, daß auch wir nur ein Leben haben, das letztendlich auch nicht so lang ist, aber wir lachten, weil das Leben so wunderbar ist. Das ist es wirklich! Ich wurde nach 22 Jahren freigelassen und dann meine anderen Genossen und Nelson Mandela nach 27 Jahren, die sie zusammen im Gefängnis verbracht hatten. Und Nelson kommt aus dem Gefängnis und hält an der Idee fest, »daß Südafrika allen gehört, die dort leben«. Nach seinem Tod fragten sich die Leute, was ihn im Gefängnis verändert habe. Verändert hat ihn, daß er absolut treu zu den Prinzipien stand, die wir verkündet hatten, als wir zu den Waffen griffen. Unsere Antwort war nicht, jeden Soldaten umzubringen oder Menschen ins Meer zu treiben, sondern unsere Antwort war das Festhalten an unserem Ziel, »daß Südafrika allen gehört, die dort leben, Schwarzen und Weißen« gemeinsam.
Als wir damals zu den Waffen griffen, veröffentlichten wir ein Manifest, unterzeichnet von Nelson Mandela als dem Oberbefehlshaber, natürlich anonym. Und darin stand im wesentlichen, daß unser Volk sich in die Lage versetzen wird, die Macht zu ergreifen. Bevorzugen würden wir jedoch eine politische Lösung auf dem Verhandlungsweg zwischen den Repräsentanten aller Bevölkerungsgruppen unter den Vorzeichen politischer Gleichheit, damit wir im Lauf der Zeit auch soziale und wirtschaftliche Gleichheit erlangen können. Mit anderen Worten: Ein Krieg ist nicht nur dadurch vorbei, wenn keiner der Soldaten mehr lebt. Er ist erst vorbei, wenn erklärt wird, daß er nicht fortgeführt werden soll. Unsere Gegner haben dreißig Jahre gebraucht, bis sie Verhandlungen zustimmen konnten. 30 Jahre! So viele Menschen mußten noch sterben. Mindestens tausend Menschen davon wurden ohne Gerichtsverhandlung ermordet. Mindestens hundert wurden von Gerichten zum Tode verurteilt und exekutiert. Zehntausende Jahre Gefängnishaft wurden über unsere Genossen verhängt. Auch Kinder von acht Jahren wurden ins Gefängnis geworfen, weil sie einen Stein auf einen Panzerwagen geworfen und damit Staatseigentum beschädigt hatten!
Das ist das System, unter dem wir leben mußten. Und nachdem Nelson Mandela freigelassen worden war – herrschende Klassen geben nicht so schnell auf, ihre Sicherheitskräfte ermordeten noch Zehntausend Menschen in den vier Jahren, in denen wir über die Übergabe der Regierungsmacht verhandelten. Der Kampf war vorbei, aber trotzdem ermordeten sie diese Menschen aus reiner Willkür, einfach so, bevor wir in den ersten freien Wahlen von 1994 die Regierungsmacht übernahmen und sie festigen konnten. Es wurde häufig mit Konterrevolution gedroht, und es war sehr viel harte politische Arbeit notwendig, das zu verhindern.
Jetzt, da Nelson Mandela nicht mehr lebt, sagen Leute, er sei wie ein Heiliger gewesen, der es geschafft habe, uns eigenhändig Frieden und Versöhnung zu bringen. Was ist mit denn mit den Hunderttausenden Menschen, die daran mitgewirkt haben? Er war ein Führer unter Führern. Er führte uns vom Gefängnis aus und Oliver Tambo aus dem Exil in die Freiheit. Die Medien verlangen heute nach Einzelhelden. Dazu ein dummes Beispiel: Tausende Menschen sterben jeden Tag in imperialistischen Kriegen, in denen es um die Kontrolle über Afrika, Syrien, Afghanistan und verschiedene Teile der Welt geht, aber wir hören kaum etwas davon. Wenn aber Michael Schumacher sich seinen Kopf stößt, weil er einen Adrenalinstoß hat...
Deshalb, Genossinnen und Genossen, möchte ich euch sagen, daß trotz all des Negativen, das ihr über mein Land hört – und ich könnte eine ganze Weile über diese Probleme sprechen –, wir in nur zwanzig Jahren viel erreicht haben, was ganz wunderbar ist. Natürlich haben wir Probleme, es gibt Korruption, unser Gesundheitssystem ist völlig überlastet, unser Bildungssystem steht vor dem Zusammenbruch, wir haben Probleme mit der Verwaltung und dem Management in Regierungsstellen, die an vorderster Front stehen. Aber Millionen von Menschen erhalten heute eine medizinische Versorgung, die sie zuvor nie hatten. Millionen von Kindern besuchen eine Schule, was zuvor nicht möglich war. Die Hälfte unserer Bevölkerung waren Analphabeten. Wir sind dabei, das zu überwinden. Und wenn ihr von der Gewalt auf der Straße lest und den Protesten und den Demonstrationsmärschen – dies ist eine lebendige vital Demokratie. Sie funktioniert, und ich bin optimistisch, eben weil sie funktioniert. Egal, was die Imperialisten tun, egal ob sie versuchen, unser Land daran zu hindern, sich zu entwickeln, wir werden unser Land entwickeln – zusammen mit anderen Völkern in Brasilien und Indien und China und anderen Ländern, die auch so furchtbar unterdrückt waren.
Ich möchte euch dafür danken, daß ihr mich eingeladen habt. Ich halte eure Arbeit für wichtig, die ihr macht in einer Zeit, in der es in den Mainstream-Medien so viel Triumphalismus gibt, die so tun, als wäre Deutschland der Inbegriff von Demokratie und sei immer schon demokratisch gewesen, als wären Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg nicht ermordet und die Demokratie der Weimarer Republik nicht zerstört worden. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde euch von anderen westlichen Mächten so etwas wie Demokratie aufgezwungen. Und jetzt werden uns von hier aus Lektionen über Demokratie erteilt, genauso wie es Britannien tut, und die Vereinigten Staaten von Amerika mit ihrer ganzen Korruption – ich will jetzt nicht von der Korruption in Deutschland sprechen, weil ich weiß, daß es hier keine gibt! Aber die Arbeit, die ihr tut durch diese Konferenz und junge Welt und andere Organisationen, und zu sehen, wie ihr diesen Triumphalismus bekämpft und die Rechte der Völker der Welt hochhaltet, ist für mich eine unglaubliche Erfüllung! Denn der Kampf geht weiter, und er wird niemals aufhören. Wir erringen unsere Demokratie, und dann verteidigen wir sie.
Danke für eure Aufmerksamkeit.
Übersetzung aus dem Englischen: Jürgen Heiser