Kolumne 1.010 vom 25.05.2020: In Erinnerung an Frances Goldin

25.05.20 (von maj) Frances Goldin starb am 16. Mai 2020. In ihrem langen und bewegten Leben hat die Sozialistin und Literaturagentin Frances Goldin sich stets für die Armen und Besitzlosen eingesetzt.

Mumia Abu-Jamal * Link zum Artikel in junge Welt Nr. 120 vom 25. Mai 2020: Bitte HIER klicken![1]

In Erinnerung an Frances Goldin
In ihrem langen und bewegten Leben hat die Sozialistin und Literaturagentin Frances Goldin sich stets für die Armen und Besitzlosen eingesetzt. 1951 kandidierte sie auf der Liste der American Labor Party (ALP) für den Senat des Staates New York. Mit ihr kandidierte der Soziologe und Bürgerrechtler W. E. B. Dubois, aber beide bekamen nicht genug Stimmen. Doch das konnte Frances Goldin nicht stoppen. Ende der 1950er Jahre war sie Mitbegründerin des »Cooper Square Committee« (CSC), das den Kampf für die Mieter des gleichnamigen Viertels in der New Yorker Lower East Side aufnahm. Hauptgegner war Robert Moses, der vielleicht berühmteste Stadtplaner New York Citys, der Miethäuser niederwalzen ließ, in denen etwa 2.400 ärmere Familien wohnten. Sie sollten Platz machen für Apartmenthäuser der zahlungskräftigen Mittelschicht.

Das Komitee führte einen sehr langen Kampf gegen die Stadt, aber fünfzig Jahre später konnten endlich lange leerstehende Wohnungen und Neubauappartements bezogen werden, die nun unter der Kontrolle der Mieter standen und bezahlbar waren. Zu Ehren von Frances erhielt ein Neubau, dessen Wohnungen vor allem für ältere Mieter erschwinglich sind, den Namen »Frances Goldin Senior Apartments«.

Als radikale Linke liebte Frances Bücher – und ganz besonders solche mit radikalen Inhalten. 1977 setzte sie ihre Liebe zum Buch in die Tat um und gründete die »Frances Goldin Literaturagentur«. Bücher radikalen Inhalts und ihre Autorinnen und Autoren hatten von da an ein festes Zuhause. Frances wollte die Welt verändern und öffnete deshalb die Türen für Romane, Sachbücher, Lyrik und Kinderbücher, die das Denken der Menschen verändern sollten.

Wie sehr sie uns Autoren freundschaftlich verbunden war, belegt folgende Situation: Als ich mich noch im Todestrakt von Waynesburg, Pennsylvania, befand, hörte ich eines Tages Klopfzeichen an dem kleinen Glasfenster meiner Zellentür. Draußen stand Frances auf dem Gang des Todestrakts! Ich war verblüfft und sprachlos! So etwas war zuvor noch nie passiert! Doch Frances war eben Frances und machte alles möglich. Und so lief sie im Todestrakt herum und unterhielt sich mit meinen Mitgefangenen.

Sie ging sogar hinaus in den sogenannten Gefängnishof. Ein paar Minuten später kehrte sie zu meiner Zellentür zurück. Tränen liefen ihr über die Wangen. Noch bevor ich eine dumme Frage stellen konnte, platzte sie heraus: »Diese, diese … Käfige! Darin sollte man nicht mal Hunde einsperren!« Ich hätte sie am liebsten in den Arm genommen und getröstet, aber die Stahltür zwischen uns verhinderte das. Ich fühlte mich seltsam beschämt, wie ein Mann, dessen primitive Hütte und Armut zum ersten Mal durch jemand anderen wahrgenommen wird. Von diesem Moment an änderte sich mein Blick auf diese sechs Quadratmeter großen Maschendrahtkäfige. Was zuvor ein Ort war, an dem wir Gefangenen Liegestütze machen oder uns anderweitig bewegen konnten, hatte sich durch Frances’ Tränen verändert.

Frances war mehr als eine radikale Linke, Literaturagentin oder erbitterte Kämpferin für Mieterrechte. Sie war auch eine leidenschaftlich liebende und stolze Mutter ihrer beiden Töchter Sally und Reeni. 1924 als Tochter jüdischer Einwanderer aus Russland geboren, liebte sie es, spielerisch mit ihrer bäuerlichen Herkunft zu prahlen. Aufgewachsen war sie im Stadtbezirk Queens von New York City und in Harlem, das zum Bezirk Manhattan gehört. In Queens bekam sie hautnah den virulenten Antisemitismus zu spüren, als Steine gegen die Fenster ihrer Wohnung flogen.

Frances war sowohl Tochter als auch Mutter der Basisbewegungen. Ich wage zu behaupten, dass sie eine »farbige« Frau war, wie es nur Frances sein konnte. Ihre Farbe? Natürlich lila (Lieblingsfarbe von Goldin, die stets Lilafarbenes trug, jW). Ihre Augen, ein strahlendes Veilchenblau, spiegelten ihren Geist, ihre Intelligenz, ihren Humor, ihre Leidenschaft und ihr Mitgefühl wider.

Ihre starken bäuerlichen Gene trugen sie durch 96 Frühlingszeiten, in denen die zierliche Frau Generationen lehrte, welche Kraft ein großes und mächtiges Herz hat, die Welt zu verändern. Frances starb am 16. Mai 2020. Als ihr Freund und Klient schließe ich mit den Worten: Frances Goldin, presente!
Übersetzung: Jürgen Heiser

Der Nachruf wurde zur Veröffentlichung in jW leicht gekürzt. Link zum Film »It Took 50 Years. Frances Goldin and the Struggle for Cooper Square«: Bitte HIER klicken![2]


Links im Artikel: 2
[1] https://www.jungewelt.de/artikel/378866.in-erinnerung-an-frances-goldin.html?sstr=in|erinnerung|an|frances|goldin
[2] http://www.ittook50.com/home/

Ausdruck von: http://freedom-now.de/news/artikel1805.html
Stand: 24.11.2024 um 02:11:45 Uhr