Kolumne 1.027 vom 21.09.2020: Die Auswirkungen der Coronapandemie

21.09.20 (von maj) Hoffnungen auf Gefangenenentlassungen aufgrund der Pandemie wurden zerschlagen

Mumia Abu-Jamal * Link zum Artikel in junge Welt Nr. 221 vom 21. September 2020: Bitte HIER klicken![1]

Die Auswirkungen der Coronapandemie
Wer verstehen will, welche gesellschaftlichen Auswirkungen das Wüten der Coronapandemie in den USA hat, muss sich zunächst vergegenwärtigen, dass rund achtzig Prozent des Landes im »Lockdown« waren, wie es heute heißt. Die Menschen durften ihre Wohnungen oder Häuser nur verlassen, um Lebensmittel einzukaufen oder wenn sie »systemrelevanten« Berufsgruppen angehörten. Millionen US-Bürger konnten im Internet verfolgen, was es heißt, unter einem Lockdown zu leben. Vor allem für Singles und ältere Menschen bedeutete es eine bislang unbekannte Form der Einzelhaft.

Auch für viele Menschen im Normalvollzug der US-Gefängnisse, hier »Mainline« genannt, war es eine Form der Isolationshaft, als ihnen wegen der Coronapandemie verboten wurde, zu arbeiten oder am Schulunterricht teilzunehmen. Besuche fanden ebensowenig statt wie der Hofgang, und auch zu Sport- und Fitnessräumen war der Zutritt verboten. Gerade Leuten hinter Gittern, die daran gewöhnt waren, zu all diesen Aktivitäten täglichen oder regelmäßigen Zugang zu haben, setzte das arg zu. Wer ohnehin zu Isolationshaft verurteilt war, dem war das alles schon in groben Zügen bekannt. Für Gefangene im Normalvollzug machte es jedoch einen großen Unterschied aus, da es für sie keinen festen Entlassungstermin aus dieser besonderen Form der Absonderung gab. Die unbefristete Isolierung besteht also für die meisten Inhaftierten im Coronalockdown weiter fort. Denn wer weiß schon, wie lange das Coronavirus noch über das Land herrschen wird?

Die Vorstellung, dass irgendein Verantwortlicher in den US-Gefängnisbehörden in absehbarer Zeit das erlösende »Alles wieder okay!« ausrufen wird, ist lächerlich. Diese Nation muss damit rechnen, dass die Zahl der an Covid-19 Verstorbenen auf 200.000 ansteigen und die Zahl der Infizierten dann wahrscheinlich allein in den USA bei weit mehr als 6,5 Millionen liegen wird. Das Coronavirus lebt und gedeiht weiter im Land und ganz besonders in dessen Gefängnissen.

Im Frühjahr, als das Virus so dramatisch zuschlug, glaubten viele Aktivisten, nun werde es im großen Stile zu Entlassungen kommen, um Gefangene vor Infektionen zu schützen und die Ausbreitung des Virus hinter den Mauern zu verhindern. Sie hofften darauf, dass die Masseninhaftierungen vergangener Jahrzehnte nun endlich gekontert würden. Es scheint jedoch, dass sie die Abhängigkeit des Staates von Gefängnissen als einem seiner wichtigen politischen Faktoren unterschätzt haben, ganz zu schweigen von der Bedeutung der Gefängnisindustrie für das System als wirtschaftlicher Grundpfeiler.

Die Wirklichkeit belehrte alle, die diese Hoffnungen nährten, unterdessen eines Besseren. Denn inzwischen herrschen in vielen Gefängnissen Zustände, die schlimmer sind als in den berüchtigten Isolationstrakten der Hochsicherheitseinrichtungen. Unter dem Einfluss des Coronavirus haben sich die meisten Gefängnisse in eine neue Art Todestrakt verwandelt. Wobei nicht die Frage ist, wie viele Häftlinge sich noch infizieren und an Covid-19 erkranken, sondern wie viele von ihnen sterben werden. Unter den Gefangenen greifen Angst, Furcht und Verzweiflung um sich.
Übersetzung: Jürgen Heiser


Links im Artikel: 1
[1] https://www.jungewelt.de/artikel/386754.die-auswirkungen-der-coronapandemie.html?sstr=die%7causwirkungen%7cder%7ccoronapandemie

Ausdruck von: http://freedom-now.de/news/artikel1836.html
Stand: 24.11.2024 um 00:55:46 Uhr