Ein Imperium hat keine Verbündeten
30.01.03 (von maj/jw) Mumia Abu-Jamals Beitrag für die Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11. Januar 2003
(Veröffentlicht auch in: junge Welt-Beilage vom 26. Januar 2003 mit allen Beiträgen der Konferenz)
Ona Move! Bewegung!
Schwestern, Brüder, Genossinnen und Genossen!
Ich danke euch allen dafür, daß ich jetzt Gelegenheit habe, heute, am Vorabend eines erneuten imperialistischen Krieges, hier bei euch zu sein. In diesem Krieg wird es vor allem um Öl und Hegemonie gehen und darum, das zu konsolidieren, was George I - George Herbert Walker Bush - 1991 die »Neue Weltordnung« nannte - im Licht der heutigen Ereignisse eine verhängnisvolle Perspektive.
Wenn man in diesen Tagen Äußerungen einiger vermeintlicher Linker in den USA hört, dann herrscht dort die besorgniserregende Auffassung vor, daß man dieses widerliche Kriegsgemetzel nicht mehr verhindern könne. Folgt man den Medienberichten, dann soll es sich - nach letzter Deutung - um einen Zweifrontenkrieg handeln, in dem Nordkorea jetzt zum externen Fixpunkt gemacht wird, mit dem sich die Projektion der »Achse des Bösen« aufrechterhalten läßt.
Als ich vor kurzem eure freundliche Einladung erhielt, dachte ich über Rosa Luxemburg nach, und aus Respekt vor dem Beispiel, das sie gab, nahm ich mir vor, etwas von ihr zu lesen, das ich noch nicht kannte. Überraschenderweise hatte ich eine Broschüre von ihr in greifbarer Nähe, in der ihre Briefe an Sophie, die Frau ihres Genossen Karl Liebknecht, dokumentiert sind. Rosa liebte Sophie, sie redete sie zärtlich und familiär mit »Sonja«, »Sonjuscha« oder mit »Sonitschka« an.
Man spürt beim Lesen, daß sie diese Frau liebte und vermißte, und sie schrieb ihr während ihrer gesamten Haftzeit und gab ihr Empfehlungen, wie sie mit ihrer Einsamkeit klarkommen kann, denn Sophies Mann, Karl, hat auch die meiste Zeit zwischen 1916 und 1918 im Gefängnis gesessen.
Rosa Luxemburgs Gefängnisbriefe verströmen einen Geist des Optimismus, der Hoffnung, einer alles durchdringenden Liebe zur Natur und zum Leben.
Wir können von Rosa Luxemburgs Beispiel sehr viel lernen, ihrem sehr realen, zutiefst menschlichen Mut im Angesicht der Not und widriger Umstände. Denn machen wir uns nichts vor, dies ist das Zeitalter der Not, eines, das in der Tat alles in den Schatten stellt, was bislang in der Menschheitsgeschichte geschah.
Sie war weit mehr als eine überzeugte Sozialistin in einer Zeit, als es an der Tagesordnung war, ins Gefängnis geworfen zu werden, wenn man sich zu solchen Ideen bekannte. Und wie ihr und Karl Liebknechts Beispiel zeigen, ist es auch möglich, daß man umgebracht wird, wenn man einen sozialistischen Standpunkt einnimmt.
Rosa Luxemburg verfügte über eine Sensibilität wie die heutigen Umweltschützerinnen und Umweltschützer der ökologischen Bewegung. Sie hatte ein feines Gespür für das Leben der Pflanzen und Tiere, für den Wind, die Erde, für Sonnenuntergänge, für Farben und den Regen. Es ist klar, daß sie als eine Gefangene all diese natürlichen Widerspiegelungen der Freiheit vermißte, ihre Briefe zeigen aber, daß sie schon vor dem Gefängnis von einer tiefen Liebe und Beziehung zur Natur geprägt war. In ihrem Brief aus Wronke vom 2. Mai 1917 spürt man beim Lesen, wie ihre Gefühle an einem vorbeiziehen wie ein stark strömender Fluß:
»Gestern las ich gerade über die Ursache des Schwindens der Singvögel in Deutschland: es ist die zunehmende rationelle Forstkultur, Gartenkultur und der Ackerbau, die ihnen alle natürlichen Nist- und Nahrungsbedingungen - hohle Bäume, Oedland, Gestrüpp, welkes Laub auf dem Gartenboden - Schritt für Schritt vernichten. Mir war es so sehr weh, als ich das las. Nicht um den Gesang für die Menschen ist es mir, sondern das Bild des stillen unaufhaltsamen Untergangs dieser wehrlosen kleinen Geschöpfe schmerzt mich so, daß ich weinen mußte. Es erinnerte mich an ein russisches Buch von Prof. Sieber über den Untergang der Rothäute in Nordamerika, das ich noch in Zürich gelesen habe: sie werden genau so Schritt für Schritt durch die Kulturmenschen von ihrem Boden verdrängt und einem stillen grausamen Untergang preisgegeben. (...) Ich habe manchmal das Gefühl, ich bin kein richtiger Mensch, sondern auch irgendein Vogel oder ein anderes Tier in Menschengestalt; innerlich fühle ich mich in so einem Stückchen Garten wie hier oder im Feld unter Hummeln und Gras viel mehr in meiner Heimat als auf einem Parteitag. Ihnen kann ich ja wohl das alles sagen: Sie werden nicht gleich Verrat am Sozialismus wittern. Sie wissen, ich werde trotzdem hoffentlich auf dem Posten sterben: in einer Straßenschlacht oder im Zuchthaus. Aber mein innerstes Ich gehört mehr meinen Kohlmeisen als den 'Genossen'. Und nicht etwa, weil ich in der Natur, wie so viele innerlich bankerotte Politiker ein Refugium, ein Ausruhen finde. Im Gegenteil, ich finde auch in der Natur auf Schritt und Tritt so viel Grausames, daß ich sehr leide.«
Das sind die Worte, Gedanken, Bekenntnisse einer außergewöhnlichen menschlichen Seele. Sie hat einen so direkten Zugang zu der sie umgebenden Welt, daß sie sich gegenüber der Welt der Menschen, auch der sozialistischen Welt, entfremdet fühlt. Trotz ihrer Ketten ist sie voller Freude, ist aufrührerisch und unerhört lebendig.
Wir, die wir heute durch die Optik von annähernd einem Jahrhundert auf sie zurückblicken, entdecken etwas Frisches in ihrer Vision, etwas, das so neu ist wie das »neue« Jahrhundert, etwas, das einfach zeitlos ist: eine tiefe und starke Wechselbeziehung mit der natürlichen Welt.
Das lehrt uns, daß wir uns mit allen Aktivistinnen und Aktivisten zusammenschließen müssen, die eine Perspektive des Kampfes für den Schutz der natürlichen Welt haben. Sie sind im besten Sinne des Wortes natürliche Verbündete unserer antiimperialistischen Bewegungen. Wenn Rosa Luxemburg schrieb, es »schmerzt mich so, daß ich weinen mußte«, dann sprach sie aus, was Millionen nach ihr empfinden und aussprechen würden.
Als ich Rosas Gedanken über die Natur las, von denen sie im Gefängnis erfüllt war, erinnerte ich mich an die Erfahrungen von Ramona Africa, der Informationsministerin von MOVE, die, als sie selber im Gefängnis war, von Wärtern angegriffen wurde, weil sie es gewagt hatte, ihr Essen mit Vögeln im Gefängnishof zu teilen. Sie und weitere MOVE-Schwestern wurden in eine regelrechte Schlägerei mit den Schließern verwickelt, die mit Schlagstöcken gegen sie vorgingen und sie in Handschellen legten. Und warum? Weil sie verhindern wollten, daß diese Frauen ihr Anstaltsessen mit anderen Lebewesen teilen. Für die Knastverwaltung war es eher vertretbar, Lebensmittel in den Müll zu schmeißen, als zuzulassen, daß Vögel damit gefüttert werden.
Rosa Luxemburg und Ramona Africa erinnern uns an die Macht, nicht die politische Macht, sondern die Macht und die Kraft der Natur, die unseren Geist erfrischt und unsere Seelen stärkt. In einem Zeitalter, daß man die »Neue Weltordnung« zu nennen wagt, ist es die »alte« Welt, die vermeintlich vergangene Welt, die uns neue Kraft gibt, dieses Monster zu bekämpfen.
Sie hilft uns auch, uns zu größerer inhaltlicher Tiefe und vielfältiger Breite unserer Bewegung zu entwickeln.
Kommen wir zu den politischen Fragestellungen der Konferenz:
Wenn Amerikanerinnen und Amerikaner darüber sprechen, ihr Land sei eine »Demokratie«, dann hat das etwas Merkwürdiges und Irritierendes. Die USA sind reich, vielseitig, von großer Komplexität und vieles andere mehr, aber sie sind nicht demokratisch. Das wird vor allem deutlich, wenn man sich den wahrhaft imperialen Charakter des modernen US-amerikanischen Nationalstaats genauer ansieht. Diese Feststellung ist nicht das tollwütige Gekläffe eines wildgewordenen Radikalen, der den bleichen Vollmond anbellt. Nein, zum ersten Mal seit vielleicht einem Jahrhundert räumen selbst führende Stimmen der Elite und der Medienkonzerne diesen Fakt ein. Auf den Seiten des Wall Street Journal findet man überall verstreut Bemerkungen über den imperialen Charakter der USA. Natürlich findet man keine Hinweise darauf in den Programmen der politischen Parteien und auch im sogenannten Geschichtsunterricht in den Schulen wird kein Wort darüber verloren.
Aber wenn uns die Geschichte eines lehrt, dann die Tatsache, daß Nationen oft ein Selbstbild haben, das wenig mit der Realität zu tun hat. Wenn ich höre, wie Landsleute von mir die Propaganda verbreiten, die USA seien die »Wiege der Freiheit« und ähnliche Märchen, dann fühle ich mich zu der Frage herausgefordert, wie es angehen kann, daß diese »Wiege der Freiheit« auf der Sklaverei gegründet ist, der absoluten Antithese zur Freiheit und dem Inbegriff der Unfreiheit. Ehrlicherweise sollte man von der »Wiege der Freiheit der Weißen« sprechen, aber dann würde ja zu schnell klar, wer hier immer schon in Unfreiheit lebte.
Aber genau auf solchen Fiktionen beruht Geschichtsschreibung.
In diesem Licht müssen wir die neuproklamierte »Bush-Doktrin« sehen, wie sie im jüngst veröffentlichten Papier über die »Nationale Sicherheitsstrategie der Vereinigten Staaten von Amerika« veröffentlicht wurde. Darin werden Präventivschläge überall auf der Welt gerechtfertigt - gegen jedes Land, das auch nur daran denkt, die USA zu bedrohen oder vorhat, mit dem Imperium gleichzuziehen. Das Papier propagiert die Konservierung der alten Strategien des Kalten Krieges, der »Eindämmung« und »Abschreckung«. Die USA wollen ihre Vormachtstellung in den Todestechnologien nutzen und das Recht für sich in Anspruch nehmen, mittels Präventivschlägen jeden anderen Staat in der Welt anzugreifen und seine Regierung zu stürzen. Dazu genügt schon der bloße Anschein, dieser Staat könnte die USA bedrohen und versuchen, sich in den Besitz von Massenvernichtungswaffen zu bringen (über die die USA schon lange und in ungeheurer Zahl verfügen), könnte Terroristen beherbergen oder dem Großen Bruder nicht tief genug in den Arsch kriechen.
Die Vereinten Nationen sind bei all dem das geringste Hindernis, wie sich schon 1991 im Krieg gegen Irak gezeigt hat. Auch die Europäische Union hat der unverschämten US-amerikanischen Selbstüberhebung nichts entgegenzusetzen, denn auch wenn Europa große Reichtümer und ökonomische Stärke besitzt, so ist es doch kein wirklicher Gegner für die Kriegsmacht des US-Imperiums - und die euopäischen Eliten sind sich darüber im klaren.
1991, als der verstorbene französische Präsident Francois Mitterand und der frühere deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl ihre Pläne für ein deutsch-französisches »Euro-Corps« verkündeten - gedacht als offizieller militärischer Arm der EU - , da schickte George Herbert Walker Bush, der Alte, seinen europäischen »Alliierten« eine kaum verhüllte Drohung. Darin hieß es: »Für uns ist es eine klare Prämisse, daß die Europäische Union die amerikanische Rolle bei der Verteidigung und in den Angelegenheiten Europas nicht überflüssig macht. Wenn wir mit dieser Prämisse falsch liegen, meine Freunde, wenn Sie also letztlich das Ziel anstreben, sich individuell um ihre eigene Verteidigung kümmern zu wollen, dann ist jetzt der richtige Zeitpunkt, uns das mitzuteilen.«
Die Idee des »Euro-Corps« wurde daraufhin in aller Stille zu den Akten gelegt und die NATO, Relikt des Kalten Krieges, nahm wieder ihren angestammten Platz ein - natürlich unter Fortsetzung der US-amerikanischen Dominanz in Fragen von Strategie und Kommando.
Die NATO hat ihre Grenzen, wie der Wissenschaftler Michael Ignatieff in einem Artikel der New York Review of Books feststellte:
»Es kann ganz nützlich sein, wenn der britische Premierminister im Rahmen seiner Pendeldiplomatie zwischen Islamabad und Neu Dehli vermittelt, aber der wirkliche Einfluß, jener, der bestimmt, was am Ende dabei herauskommt, geht von den USA aus. Das ist eine schmerzhafte Realität für die Europäer, die wie die Japaner an den Mythos glaubten, wirtschaftliche Macht könne ein Äquivalent zu militärischer Macht sein. Die Ereignisse seit dem 11. September 2001 haben ihnen die Lektion erteilt, daß sich globale Macht immer noch an militärischer Leistungsfähigkeit mißt. Nachdem sie sich nach dem 11. September klar auf die Seite der Amerikaner gestellt hatten, mußten die NATO-Verbindungsoffiziere, die in der CENTcom-Kommandozentrale in Florida eintrafen, die Demütigung über sich ergehen lassen, daß ihnen jeder Zugang zu den Schaltzentralen verweigert wurde, von denen aus der Krieg gegen Osama Bin Laden geführt wurde. Wie schon in der Kosovo-Operation brachten die US-Amerikaner ihren Verbündeten so wenig Vertrauen entgegen, daß sie sie mit Ausnahme der Briten von allen wichtigen Entscheidungen ausschlossen und ihnen nur die niedrigste Polizeiarbeit zuwiesen.«
(»Barbarians at the Gate?«, NYROB vom 28. Februar 2002, S. 4-6)
Ein Imperium hat keine Verbündeten und es braucht auch keine Verbündeten. Es genügt sich selbst, hat bestenfalls Vasallen. Es duldet vor allem keine Gleichen neben sich. Die Bush-Doktrin ist randvoll mit Drohungen gegen den Rest der Welt, damit das auch so bleibt - für immer.
Ich danke euch für eure Aufmerksamkeit.
Ona Move!
Mumia Abu-Jamal
Aus dem Todestrakt SCI-Greene,Waynesburg, Pennsylvania
Der Beitrag wurde übersetzt und vorgetragen von Jürgen Heiser, Mitglied des Internationalen Verteidigungs-Komitees (IVK) in Bremen, das seit 1. Januar 2003 das Freedom Now! Online Bulletin mit kontinuierlichen Infos über die Kampagne gegen die Todesstrafe und für die Freiheit von Mumia Abu-Jamal herausgibt.
Kontakt: www.freedom-now.de
IVK, Postfach 150 530, 28095 Bremen
Das Verteidigungsteam unter Leitung von Marlene Kamish bittet dringend um Spenden unter dem Stichwort »Verteidigung« auf das Konto:
Archiv 92/Sonderkonto »Jamal«
SEB-Bank Bremen
Kto.-Nr. 100 873 8701 (BLZ 290 101 11)
Ausdruck von: http://freedom-now.de/news/artikel187.html
Stand: 23.11.2024 um 21:29:28 Uhr