Mumia Abu-Jamal * junge Welt Nr. 184, 9./10. August 2003
»Die relative Gleichheit der Amerikaner vor 1776 wurde überwältigt von unzähligen Formen physischer, mentaler und ökonomischer Differenzierung, so daß die Kluft zwischen den Reichsten und Ärmsten nun größer ist als zu irgendeiner Zeit seit dem imperialen, plutokratischen Rom.«
Will u. Ariel Durant in »The Lessons of Histrory«, 1968
Wer von uns hat dieses Imperium gewollt, geschweige denn gewählt?
Wer von den Millionen von Amerikanern, die letztendlich ihre Stimme abgeben durften, hat denn wirklich für diese Außenpolitik gestimmt, die bewaffneten Amerikanern den Befehl gab, ein anderes Land auf das Ebenbild der USA zurechtzustutzen?
Wer aus diesem zugegebenermaßen begrenzten Kreis der offiziellen Wählerschaft hat dafür gestimmt, daß die USA Prinzen in Ländern an die Macht bringen, in denen die Bevölkerung eine Sprache spricht, von der die große Mehrheit der Bevölkerung der USA noch nie ein Wort gehört hat?
In den frühen Tagen der US-amerikanischen Republik, als ein kleiner Haufen angespannter und nervöser Männer (denn sie waren ausnahmslos alle Männer) sich in Philadelphia versammelten, da schwebten ihnen zwei historische Beispiele vor, denen sie große Wertschätzung entgegenbrachten und in denen sie Modelle für die Regierungsform sahen, die diese neue Nation annehmen sollte: Rom und Großbritannien. Für zwei der Delegierten, nämlich die Herren James Madison aus Virginia und John Dickinson aus Delaware, waren diese Beispiele die attraktivsten. Madison wollte einen Senat nach römischem Vorbild, aber mit allgemeinen Volkswahlen. Dickinson hatte eher einen Senat im Sinn wie das britische House of Lords, dessen Mitglieder nicht vom Volk gewählt, sondern von der gesetzgebenden Gewalt bestimmt werden. Dickinson setzte sich durch, und es verging noch über ein Jahrhundert, bis die Bevölkerung die Erlaubnis erhielt, ihre »Repräsentanten« zu wählen. Soviel zur »Demokratie« in den USA.
Der eigentliche Punkt aber ist, daß in der Gründungsphase der USA ausgerechnet zwei Vorbilder breiten Raum in den Vorstellungen der US-Amerikaner einnahmen, die beide weltumfassende Imperien waren.
Warum haben sich die »Gründungsväter« nicht für frühgeschichtliche oder für die von den nordamerikanischen »Indianern« gelebten Demokratien interessiert? Ganz einfach: Sie wollten keine wirkliche Demokratie. Sie wollten einen Staat aufbauen, der sie, ihren Reichtum und ihre Privilegien schützen und nur dem Anschein nach demokratisch sein sollte. Das ist der Grund, warum die Bevölkerung der USA noch bis 1912 warten mußte, bis sie ihre Repräsentanten auf der Grundlage des dafür geschaffenen 7. Zusatzartikels der Verfassung wählen durfte. Deshalb gibt es bis heute kein verfassungsmäßig verbrieftes Wahlrecht. Erinnern wir uns an die Vorgänge während der »Wahl« des Jahres 2000, als entschieden wurde, Bush habe Gore besiegt. Diejenigen, die von ihrem Wahlrecht ausgeschlossen wurden, zählten wahrscheinlich nach Zehntausenden. Die Gerichte haben zu dieser widerrechtlichen Anmaßung geschwiegen, weil sie wissen, daß es kein wirkliches, in der Verfassung niedergelegtes Wahlrecht gibt. Die wahlen werden durch das föderale Staatsrecht geregelt, »geschützt« durch Staatsgerichte und Statuten und Verfassungen der Bundesstaaten. Das Oberste Bundesgericht in Washington D.C. entschied zum Vorteil von Bush gegenüber Gore nicht auf der Basis des Verfassungsrechts der Bürgerinnen und Bürger auf freie Wahlen, sondern auf der Basis des im 13. und 14. Zusatzartikel der Verfassung garantierten »Gleichheitsschutzes«! Es ist schon auf delikate Weise eine Ironie der Geschichte, daß ausgrechnet der Verfassungszusatz, der geschaffen wurde, um die Verfassungsrechte der Schwarzen in den USA zu schützen, die damit nach 244 Jahren Sklaverei »befreit« werden sollten, im Jahr 2000 in ein Instrument verwandelt wurde, eben diesen Schwarzen die Ausübung ihres Wahlrechts in Florida zu verwehren und die juristische Machtübernahme im politischen Prozeß zu rechtfertigen, die den Sproß der Bush-Dynastie auf den Thron hievte.
Wir alle werden den autokratischen Launen eines imperialen Staates unterworfen, der jede Bestrebung, garantierte Verfassungs- oder Bürgerrechte wahrzunehmen, im Keim zu ersticken versucht. Wir leben in einer juristisch-militärisch-medialen Diktatur, deren Protagonisten - ähnlich wie ihre Vorgänger in England und Rom - beteuern, »im Namen des Volkes« zu sprechen, während sie doch nichts anderes tun, als die Klasse, die sie an die Macht gebracht hat, zu schützen und ihren Reichtum zu mehren.
In der Antike verwickelten der Senat und die Imperatoren das Römische Reich in immer neue Kriege an seinen Grenzen, um im Heer keine Gedanken aufkommen zu lassen, die Macht in den vor Luxus überquellenden reichen Städten zu ergreifen. Die alten Römer sahen in jedem, der kein Römer war, einen »Barbaren«. Der heute aktuelle Ausdruck ist »Terrorist«. Das US-Imperium tötet mit seinen Bomben Tausende, und es macht sich nicht die Mühe, die Opfer zu zählen, sondern geißelt jene, die sich wehren, als »Terroristen«. Die Medien, immer bereit, die Raubzüge des Imperiums zu bejubeln (wegen der guten Profitraten), preisen ohne Unterlaß die Weisheit und Güte des Imperators und seiner Truppen.
Jene, die diese »Weisheit« der Kriegsherren in Frage stellen, werden als Verräter denunziert und von Haus und Hof verjagt. Und uns wird weiterhin versichert, dieser Krieg solle »anderen Völkern« die Demokratie bringen.
Die USA sind trunken vom Siegestaumel des Imperiums, und wie im alten Rom schließt man die Augen vor dem Abgrund, der sich vor einem auftut. Nichts hat sich geändert: Hoffart kommt vor dem Fall.
Übersetzung: Jürgen Heiser