Kolumne 11.02.06: Träume von »Chocolate City«

11.02.06 (von maj) Wie die US-Medien die Rede des Bürgermeisters von New Orleans skandalisierten

Mumia Abu-Jamal * junge Welt Nr.36, 11./12. Februar 2006

Wenn man den bürgerlichen Medien glauben darf, dann hat sich der Bürgermeister von New Orleans, Ray Nagin, einen schweren politischen Fauxpas geleistet. Seine Stadt werde sich nach der Hurricane-Katastrophe von »Katrina« wieder zu einer »chocolate city« entwickeln, sagte er unlängst, in Zukunft also wieder vorwiegend von Schwarzen bewohnt sein. Die Presse stürzte sich auf den Begriff. Man gewann schon fast den Eindruck, daß der schwarze Nationalist Kwame Ture (Stokeley Carmichael) wiedergeboren wurde und sein Kampfruf »Black Power!« durch die Straßen hallte.
Auf Bürgermeister Ray Nagin mag einiges zutreffen – daß er ein Schwätzer ist, oder schlimmer noch: ein bürgerlicher Politiker –, aber er ist ganz sicher kein schwarzer Nationalist. Er wählte diesen Begriff, als er vor einer überwiegend aus Schwarzen bestehenden Menge sprach, allesamt Überlebende der »Katrina«-Katastrophe. Er konnte davon ausgehen, daß die Bezeichnung vielen der Zuhörer bekannt war. Zahlreiche Funk-Gruppen nutzten schon vor Jahrzehnten Begriffe wie »chocolate city« als Codes, wenn sie sich auf Orte wie Harlem, Detroit, Atlanta und Washington D.C. bezogen, in denen Schwarze die Bevölkerungsmehrheit stellen.
Die Träume von »chocolate cities« wurden im Bereich der schwarzen Musik und nicht in den Strategien schwarzer Politiker geboren; Träume von Städten, in denen Schwarze ein autonomes Leben in Freiheit, Frieden und Wohlstand führen. Aber Träume gehen selten in Erfüllung. Es ist daher schon mehr als eine Ironie, daß die bürgerlichen Medien sich mehr über die Äußerung von Nagins »chocolate city« ereifert haben, als über die Tatsache der abscheulichen Behandlung der schwarzen Bevölkerung im Katastrophengebiet.
Die Medien, die heute »weißer« sind als vor zwanzig Jahren, regen sich über Worte auf, während sie Missetaten oder Tatenlosigkeit übersehen. Was war denn schlimmer – Bürgermeister Nagins Rede oder der Troß von Reportern, die auf dem Höhepunkt der Katastrophe von Polizeioffizieren in das zur Notunterkunft umfunktionierte Stadion Superdome geschleust wurden, um danach Lügen von Massenvergewaltigungen und bewaffneten Jugendbanden zu verbreiten?
Es gab tatsächlich bewaffnete Banden, die im Katastrophengebiet ihr Unwesen trieben und um sich schossen und plünderten. Aber sie bestanden zumeist aus Polizisten. Als die Armen von New Orleans Hilfsgüter brauchten, als Männer, Frauen und Kinder sicheres Geleit aus dem Überschwemmungsgebiet, Nahrungsmittel und medizinische Versorgung brauchten, schickten die zuständigen Regierungsstellen die schwerbewaffnete Nationalgarde. Diese Soldaten, die größtenteils frisch aus dem Irak-Krieg nach Hause versetzt worden waren, richteten ihre Waffen wie Besatzer gegen ihre afroamerikanischen Landsleute.
Sie behandelten sie wie Feinde. Wenn es den Medien wirklich um Menschenleben gegangen wäre, dann hätten sie all diese Vorgänge in den Mittelpunkt ihrer Berichterstattung stellen müssen.
In New Orleans, das seine Wurzeln sowohl in Afrika als auch in Frankreich hat, sind die Grundlagen des multikulturellen Amerika zu finden. Im britisch-amerikanischen Krieg von 1812 schlossen sich Weiße aus den ärmeren Bevölkerungsschichten, befreite schwarze Sklaven, Franzosen und vereinzelt auch Indianer zur Verteidigung der Stadt gegen die britischen Kolonialtruppen zusammen, die den Hafen besetzen wollten. Die 1815 mit einem Friedensvertrag beendete Schlacht von New Orleans zerstörte endgültig die Hoffnungen des britischen Empire auf eine südlich von Kanada gelegene britisch-amerikanische Kolonie. Vor diesem historischen Hintergrund wird die Tragödie deutlich: New Orleans war einst eine »chocolate city«, ihre Einwohner lebten seit Jahrhunderten dort. Diese Menschen schufen eine eigene Musik, einen eigene Charme und eine typische
Küche. Sie schufen eine Kultur, deren Spannweite von einem Swing-Musiker wie Louis Armstrong bis zu einer
Voodoo-Priesterin wie Marie Laveau reichte. Es ist eine Tragödie, daß viele dieser Menschen, die das Besondere der Stadt ausmachten, seit letztem Herbst vertrieben sind – oder fortgespült wurden.
Übersetzung: Jürgen Heiser


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