Von Eberhard Schultz
Eine Rezension des 2006 erschienenen Buches von Michael Schiffmann kurz vor dem überraschend anberaumten Termin zum Hearing im Wiederaufnahmeverfahren vor dem dritten Bundes-Berufungsgericht in Philadelphia am 17. 5. 2007 zu schreiben, ist ein schwieriges Unterfangen. Nicht nur, weil Buch und Rezension damit in Kürze auf dem Müllhaufen der Geschichte landen könnten – falls nicht vom Autor eine „aktualisierte Neuauflage“ binnen kürzester Frist zu erwarten ist – sondern vor allem, weil sie in den Strudel der mit Sicherheit wieder aufflammenden Auseinandersetzungen und Debatten um das Todesurteil in diesem konkreten Fall, die Todesstrafe und ihrer Art der Vollstreckung in den USA sowie der Verteidigungsstrategie beziehungsweise deren richtige Unterstützung geraten dürfte. Machen wir aus der Not eine Tugend: eine kritische Rezension mit Blick auf diese aktuellen Auseinandersetzungen. Prüfen wir, ob es die auf dem Klappentext geweckten Erwartungen an eine „gewissenhafte Untersuchung“ (Noam Chomsky) erfüllt .
Als ich das Buch während der Osterfeiertage zu diesem Zwecke erneut durchgelesen hatte, blieb ich länger bei den letzten Seiten hängen, auf denen der Autor noch einmal versucht, die besondere Bedeutung des Kampfes um die Todesstrafe und die Symbolkraft des Menschen Mumia herauszuarbeiten. Schiffmann zitiert einen Schauspieler zum Kampf des Afro-Amerikaners Malcolm X mit den Worten „(...) und dadurch erkennen wir, was er war und ist - ein Prinz, unser eigener, strahlender schwarzer Prinz! - der sich nicht fürchtete zu sterben, weil er uns so geliebt hat.“ Der Autor überträgt dies auf Mumia und schließt sein Buch mit einem weiteren Zitat eines früheren Mitkämpfers von Mumia zur Frage, was das wichtigste am Kampf der Black-Panther-Partei, unabhängig von Programm und Satzung oder Ideologie, seinerzeit war: danach war es die „(...) grenzenlose Liebe für unser Volk (…) es ist die Liebe, die durch all diesen Stahl, durch all den Schrecken, durch all die Isolation dringt, die die Menschen berührt, und genau darum ist er unser Bruder und Genosse und darum sehen wir seinen Kampf als Teil des Befreiungskampfes, der heute in den Vereinigten Staaten und auf der ganzen Welt geführt wird“ (S. 301).
Mit diesen Zitaten über den „strahlenden, schwarzen Prinzen“ von „unserem Volk“, „seinem Befreiungskampf und der grenzenlosen Liebe für unser Volk“ als dem wichtigsten überhaupt entlässt der Autor die LeserInnen aus seinem „Wettlauf gegen den Tod“ - werden damit nicht Assoziationen an Märtyrer, an einen quasi-religiösen Kampf der unterdrückten Schwarzen für eine bessere Welt geweckt, an einen neuen Jesus, der sich zu Ostern für die ganze Menschheit opferte?
So komme ich auch ohne religiös inspirierte Ostergedanken zu dem Schluss, dass dieses umfangreiche Buch LeserInnen mit wissenschaftlichem und engagierten Anspruch ratlos und teilweise desorientiert zurücklässt, auch, weil bei dem Autor – um es in Abwandlung eines bekannten säkularen Osterzitats zu formulieren – mindestens drei Seelen wohnen, ach, in seiner Brust: die des linguistischen Wissenschaftlers und die eines verhinderten Enthüllungsjournalisten und Meisterdetektivs, deren Versuchungen er konsequenterweise erliegt.
1. Wertvolle Faktensammlung und Hintergrundberichte der Entwicklung der ersten 20 Jahre
Von den knapp 300 Seiten verwendet der Autor circa 60 auf die Verhaftung und die erste Instanz des Verfahrens gegen Mumia („Der 9. 12. 1981 und die Folgen“, S. 141-192). Im ersten Teil behandelt er in vier Kapiteln ausführlich und subjektiv die historischen und gesellschaftlichen Hintergründe, vom „schwarzen Befreiungskampf nach dem Zweiten Weltkrieg“ (S. 28-61) die „Rasssenbeziehungen“ in der „Stadt der brüderlichen Liebe“ (S. 61-90), die Biografie Mumia Abu Jamals bis zu seiner Inhaftierung als „schwarzer Revolutionär im weißen Amerika“ (S. 91-119) und schließlich die „Polizeikorruption und -brutalität in den Vereinigten Staaten“ (S. 120-140). Diese Kapitel enthalten eine Fülle gut zusammengetragener Fakten und Bewertungen mit vielen aufschlussreichen Zitaten und weiterführenden Quellenangaben und lesen sich bis auf einige Wiederholungen und überlange Selbstdarstellungen der seinerzeit aktiven politischen Organisationen flüssig, für LeserInnen, denen die damaligen Verhältnisse in den USA nicht bekannt sind, bestimmt auch lehrreich und spannend. Vor allem eines wird damit deutlich: Das Verfahren gegen Mumia Abu Jamal war ein politisches Verfahren zur Aburteilung und Eliminierung eines engagierten schwarzen Aktivisten und kritischen Journalisten, eines Feindes der rassistischen Polizei in Philadelphia. Die wenigen juristischen Erfolge waren nur möglich in enger Zusammenarbeit mit einer breiten und engagierten Massenbewegung.
Relativ knapp fällt demgegenüber die Darstellung der Situation nach dem Urteil in der ersten Instanz und des aktuellen Verfahrensstandes aus. Eingeleitet wird sie durch ein weiteres gesellschaftspolitisches Kapitel über „ (...) den straff orientierten Trend in der US-amerikanischen Strafjustiz“ (S. 193-204), eingebettet in zwei Kapitel, in denen der Kampf in der „juristischen Arena“ als Teil des Kampfes der Solidaritätsbewegung und der Bewegung gegen die Todesstrafe (S. 205-197) beschrieben wird. Dieser Teil behandelt die komplizierten strafrechtlichen und strafprozessualen Probleme unzureichend und weitgehend unverständlich und verlässt streckenweise die seriöse Darstellung aus kritischer Distanz, um die sich der Autor im ersten Teil immer wieder bemüht.
Ob der Grund für die unterschiedliche Qualität der beiden Teile in der Entstehungsgeschichte liegt (eine linguistische Doktorarbeit als Grundlage und ein daran gehängter, nur aufgesetzter aktueller politischer Teil, wie J. Heiser andeutet) ist letzten Endes unwichtig. Auch halte ich politische Unkorrektheiten für zweitrangig, obwohl es mich natürlich stört, dass der Autor uns am Schluss des ersten Teils in die Darstellung der entscheidenden Ereignisse vom 9. 12. 1981 mit seiner wie folgt zusammengefassten Weisheit einführt:
»In zumindest einigen Aspekten sieht der Kampf um die Emanzipation der Schwarzen in den Vereinigten Staaten in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts weniger wie ein einfacher Kampf für weitere demokratische Rechte aus als wie ein Kampf zum Umsturz einer bösartigen, spezifisch US-amerikanischen Form von Apartheid.«
Erweckt er damit doch dem Eindruck, der Kampf gegen das Todesurteil und seine Vollstreckung sei unmittelbarer Bestandteil eines Umsturzversuches. Mit dieser von ihm schon in der Einleitung beschworenen „zentralen Frage“ nach der Macht im Staat betritt Schiffmann eine Ebene, die für das eigentlich aufklärerische Anliegen des Buches ebenso unproduktiv ist wie für die genannten Bewegungen. Ärgerlich natürlich auch, wenn der Autor an mehreren Stellen meint, betonen zu müssen, der Anteil der Gefangenen an der Gesamtbevölkerung, wie er sich in den USA in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelt hat, sei historisch nur vergleichbar mit der „Sowjetunion während der Stalin-Zeit“ (S. 195). Ohne die Verbrechen in der Stalin-Zeit bagatellisieren zu wollen: hat der Autor die Zahl der Gefangenen im Hitlerfaschismus vergessen, die bekanntlich ebenfalls in die Millionen gingen, oder zählt er etwa KZ-Häftlinge und „Fremdarbeiter“ nicht zu den Gefangenen? Sollte es sich hier um Zugeständnisse seiner Doktorarbeit an den bürgerlichen Wissenschaftsbetrieb handeln, wäre ein solcher Kotau zumindest in einem Buch zu korrigieren, das sich ausdrücklich an eine kritische, radikale demokratische und linke Öffentlichkeit wendet.
Auch hätte der internationale Kampf gegen den Justizmord der Gewerkschaftler Sacco und Vanzetti durch die US-Justiz in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts mehr als eine Fußnote verdient. Weist er doch nicht nur aufschlussreiche historische Parallelen auf, sondern zeigt, dass selbst eine Unterstützung durch Millionenmassen auf einem derartig hohen Niveau (von der internationalen „Roten Hilfe“ organisiert) nicht zum Erfolg geführt hat: Die Rehabilitierung der unschuldigen Justizopfer konnte erst lange nach dem Zweiten Weltkrieg durchgesetzt werden.
Aber alle derartigen politischen Bewertungen bleiben natürlich Sache des Autors und würden seine verdienstvollen Untersuchungen nur geringfügig schmälern, gäbe es da nicht Mängel und Fehler in weiteren Bereichen.
2. Wesentliche Mängel des Werkes
2.1 Die Kritik an der Tatversion von Polizei und Anklage stützt sich zum Teil auf wackelige Argumente, so auch leider an einem zentralen Punkt. Schiffmanns erstes und wichtigstes Argument gegen das Beweismaterial der Anklage ist das fehlende Motiv des Beschuldigten Mumia Abu Jamal, einen Polizisten zu erschließen: Obwohl der Polizist zum Tatzeitpunkt den Bruder Jamals kontrollierte, schlug und verletzte, meint Schiffmann, es sei „doch mehr als unwahrscheinlich, dass ein solcher Beobachter“ - auch wenn es der eigene Bruder sei – „vor Ärger und Zorn über die Misshandlung gleich zur Anwendung von Waffengewalt und kaltblütigen Mord schreiten würde“. Leider verrät uns der Autor nicht, von wem dieses zentrale Argument gegen die Beweise der Anklage stammen soll, während er sich sonst immer auf Quellen und Zitate stützt. Es dürfte also von ihm selbst stammen. Dabei scheint er zu übersehen, dass es durchaus forensischer Erfahrung entspricht, dass auch ansonsten völlig kontrollierte und grundsätzlich friedfertige Menschen im nachvollziehbaren Affekt zur Waffe greifen können, allerdings ohne gleich den „Angreifer“ umbringen zu wollen. Also nicht gerade ein durchschlagendes Argument. Erst viel später erfährt der aufmerksame Leser, dass es gibt Indizien dafür gebe, dass ein möglicherweise am Tatort anwesender „Freund der Familie“ geschossen haben könnte, den die beiden Brüder nicht verraten wollten (S. 272). Jedenfalls bricht der kategorische Ausschluss eines plausiblen Motivs zu Beginn der Ermittlungen mit der ansonsten von Autor stets bemühten distanzierten Sichtweise und durfte also LeserInnen, die er gerade gewinnen will, nicht sonderlich überzeugen. Ähnlich muss das Bestehen auf einer Gegenüberstellung mit den Zeugen der Anklage nach mehr als 20 Jahren nicht unbedingt ein Beweis für die Unschuld sein – wohlgemerkt aus der Sicht der Justiz bzw. eines unvoreingenommenen Beobachters. Hier begibt sich Schiffmann auf forensisch ungesichertes Terrain und verliert sich in völlig überflüssigen Spekulationen (s.u.).
2.2 Bei allem Bemühen, den komplizierten Ablauf des Jury-Verfahrens in Philadelphia halbwegs verständlich zu machen, fehlt eine einleitende zusammenfassende Darstellung der Grundzüge des angelsächsischen Strafverfahrensrechts, das bekanntlich in wesentlichen Punkten von dem kontinentaleuropäischen abweicht und für die deutschsprachigen DurchschnittsleserInnen daher kaum verständlich sein dürfte. Damit wird die ansonsten gut herausgearbeitete Kritik an den schwerwiegenden Fehlern und der Unfähigkeit des ersten, Mumia aufgezwungenen Pflichtverteidigers Jackson solange unverständlich bleiben, wie die grundlegenden Unterschiede nicht erklärt sind: Anders als im kontinentalen europäischen Strafverfahren ist die Laien-Jury das eigentliche zur Entscheidung berufene Richter-Gremium, während der vorsitzende Berufsrichter als bloßer, dem Gesetz zur Neutralität verpflichteter Verfahrensleiter ohne irgendeinen maßgeblichen Einfluss auf die Schuldfrage ist. Weiter gilt in den USA das Prinzip des Parteienprozess (im Gegensatz zum Amtsermittlungsprinzip). Mit der Folge, dass die Verteidigung das Recht und die Pflicht zu einer völlig eigenständigen Prozess- und Beweisführung hat, und mit sich daraus ergenbenden spezifischen Folgen für das Prinzip der Waffengleichheit und des „fairen Verfahrens“ und damit für eine Beeinflussung des Verfahrens durch einen voreingenommenen Vorsitzenden. Auch die verfahrensrechtliche Bedeutung eines angeblichen „Geständnisses“ des Beschuldigten gegenüber dem Krankenhauspersonal - also nicht der Justiz! - im US-amerikanischen Strafprozess hätte erläutert werden müssen.
Erst recht fehlt die Verständlichkeit für die Darstellung des Berufungsverfahrens und der Bemühungen um die Wiederaufnahme des Verfahrens, die, wie der Autor selber an einer Stelle erwähnt, so kompliziert ist, dass selbst durchschnittliche US-amerikanische Rechtsanwälte hier nicht durchblicken. Anstatt der an verschiedenen Stellen in die Darstellung eingestreuten Bemerkungen über die US-amerikanische Rechtsprechung (etwa zur »Habeas-Corpus“- Rechtsprechung des US-Supreme Courts, S. 246 ff) oder der verfahrensrechtlichen Bedeutung von Stellungnahmen nicht am Verfahren beteiligter Vereinigungen (»amicus curiae«, als Fußnote versteckt, S. 234) wäre eine kurze Skizzierung des Instanzenzuges und der Voraussetzungen und Grenzen von Wiederaufnahmeverfahren nach Rechtskraft eines Strafurteils genauso wichtig gewesen wie die umfangreichen gesellschaftspolitischen Teile. So werden die LeserInnen mit einem Wust von Fakten, Indizien, Beweismitteln, Anträgen und Entscheidungen bombardiert, deren Einordnung, Zusammenhang und Bedeutung unverstanden bleiben muss. Dave Lindorff hat inzwischen vorgemacht, dass eine verständliche Darstellung des gegenwärtigen Verfahrensstandes und der Perspektiven durchaus möglich ist („Ohne wirkliche Verteidigung“, junge Welt vom 30. 12. 2006) [Anklicken!][1].
Außerdem fehlt eine zusammenhängende Darstellung der grundsätzlichen menschenrechtlichen Kritik an der Todesstrafe und den US-amerikanischen Todestrakten („death row“), einem vom Autor zu Recht wiederholt betonten zentralen Anliegen der UnterstützerInnen. Bei der Kampagne zur Abschaffung der Todesstrafe geht es inzwischen um etwas völlig anderes als um die „Macht des Staates“ im Schiffmannschen Sinne. Hierzu gibt es umfangreiche internationale Konventionen, Rechtsprechung verschiedener Verfassungs- und Menschenrechtsgerichtshöfe weltweit - ein erfolgversprechender und weittragender Anknüpfungspunkt für die Unterstützung der Verteidigung von Mumia Abu Jamal, der eine entsprechende unschwer mögliche Aufarbeitung verdient hätte.
2.3 Völlig unverständlich ist, warum der Autor die Situation von Mumia im Todestrakt zwar ausführlich skandalisiert und von Mumias engagierten journalistischen Arbeiten im Gefängnis und dem Kampf um deren Veröffentlichung berichtet, es aber offenbar nicht für nötig hält, die konkreten Isolations-Haftbedingungen und ihre Auswirkungen auf die Gefangenen zusammenhängend und akribisch zu beschreiben und zu dokumentieren sowie die dazu vorliegenden Bewertungen internationaler Menschenrechtsvereinigungen und Gerichte gründlich wiederzugeben. Dies hat nach internationalen Erfahrungen in allen vergleichbaren Fällen politischer Gefangener ganz besonders zu Aufklärung, Engagement und Mobilisierung beigetragen. Ist es inzwischen doch weitgehend Allgemeingut, dass es sich bei derartiger Isolationshaft um Folter im Sinne der UN-Antifolter-Konvention und zahlreicher anderer internationaler Konventionen und Gesetze handelt.
Angesichts der aktuellen Debatten um die Gefangenen von Guantanamo, Abu Graib und anderen Gefängnissen im „weltweiten Krieg gegen den Terror“ erwarten viele Leserinnen sicherlich auch eine Auseinandersetzung mit dieser Frage. Die von der US-Administration vorgesehene völlige Rechtlosigkeit dieser Gefangenen müsste in Beziehung gesetzt werden zur Rechtslage und Wirklichkeit der Gefangenen in den Todestrakten. Vergleichbarkeit einerseits und wichtige qualitative Unterschiede andererseits werfen wichtige Fragen auf, die sich auch in der Bewegung gegen die Todesstrafe und der Kampagne für ein faires Verfahren für Mumia auswirken dürften und produktiv machen lassen.
2.4 Genauso unabdingbar wäre es umgekehrt, die umfangreichen journalistischen Arbeiten Mumias nicht nur als Gegenstand kontroverser Auseinandersetzung und wichtige Grundlage der Unterstützung darzustellen, sondern sie auch inhaltlich wiederzugeben, d. h. die wichtigsten Themen seiner Arbeiten zu benennen und ihn auch hierzu ausführlich selbst zu Wort kommen zu lassen (wie zuvor wiederholt bei der Darstellung der juristischen Auseinandersetzungen im Gerichtssaal). Nur mit einer solchen Wiedergabe wäre der heroische Widerstand dieses politischen Gefangenen angemessen gewürdigt und wohl auch ein ansonsten unerklärbares Phänomen nachvollziehbar: wie ein Mensch 25 Jahre Isolationshaft überstehen kann, ohne daran zu zerbrechen. Zielt diese Form der Haft doch auf die Zerstörung der politischen sozialen und psychischen Identität des Gefangenen. Angesichts des umfangreichen Archivs der „jungen Welt“ mit den wöchentlichen Kolumnen aus der Todeszelle seit fast zwei Jahrzehnten wäre die linke Ikone Mumia auch als brillanter radikaler Kritiker von Krieg und Gewalt der Herrschenden im Allgemeinen, der rassistischen Politik und US-amerikanischen Strafjustiz im Besonderen konkret erfahr- und zitierbar geworden.
2.5 Ein sensibles Thema ist die Frage nach der effektivsten Verteidigung für Mumia. Nicht nur als prinzipielle Frage, ob eine solche effektive Verteidigung in derartigen Verfahren überhaupt möglich ist und wie sie aussehen könnte, auch wenn sie in bestimmten Grenzen für möglich und vor allem für nötig gehalten wird, sind die eklatanten Mängel der ersten Verteidigung Mumias offensichtlich und in dem Buch gut dokumentiert. So wird sein erster Pflichtverteidiger Jackson auch nachvollziehbar plastisch als teilweise überfordert, unfähig und unwillig geschildert und damit deutlich gemacht, dass er ein wichtiger Grund für die erlittenen Niederlagen im bisherigen Verfahren war. Ambivalent jedoch erscheint die Schilderung der Aktivitäten der weiteren Verteidigerteams. Die Gründe für den zweimaligen Wechsel werden nur angedeutet, ja bleiben beim Übergang zu dem jetzigen Team unter Leitung von Rechtsanwalt Robert Bryan völlig im Dunkeln, obwohl gerade solche Fragen für potentielle UnterstützerInnen in politischen Prozessen von großer Bedeutung sein können.
Schiffmann erwähnt die frühere Tätigkeit des Teams unter Leitung von Len Weinglass zwar positiv und skizziert ihre wichtigsten Anträge, aber schon die Begründung für den anschließenden Anwaltswechsel ist sehr oberflächlich und zum Teil falsch. Diese wird zwar insoweit zutreffend wiedergegeben, dass ein Mitarbeiter im Verteidigerteam ein Buch über das Strafverfahren veröffentlicht hatte, ohne dies mit dem inhaftierten Mandanten zu besprechen. Unterschlagen wird jedoch der wichtigste Grund: In diesem Buch werden die interne Verteidigungsstrategie diskutiert und Differenzen ausgebreitet, ohne Mumia rechtzeitig zu informieren, geschweige denn sein Einverständnis einzuholen. Die ohne seine Zustimmung veröffentlichten Interna dienten dann der Gegenseite als willkommene Schützenhilfe (vgl. J. Heiser 2007). Erst recht unzutreffend ist der von Schiffmann angegebene Grund für die Entlassung von Len Weinglass. Die Tätigkeit des anschließenden Verteidigerteams wird in dem Buch ausführlich behandelt und ambivalent bewertet, insbesondere die Präsentationen des angeblichen „tatsächlichen Mordschützen“. Hiervon distanziert sich der Autor zwar, aber offenbar nur halbherzig. Vor allem versäumt er es, die Lehren aus diesem wohl gescheiterten Versuch, eine Alternativ-Version vom tatsächlichen Tathergang zu „beweisen“, zu ziehen. Offenbar hängt dies mit dem Kardinalfehler der vorliegenden Arbeit zusammen, auf den ich zum Schluss eingehen werde.
Die Arbeit des aktuellen Verteidigerteams unter Leitung von Rechtsanwalt Robert Bryan wird auf wenigen Seiten nur oberflächlich skizziert (S. 292-296), ohne damit ihrer Bedeutung auch nur halbwegs gerecht zu werden. Die erste positive Entscheidung in dem 23-jährigen Kampf an der juristischen Front überhaupt (seit der Verhinderung der Hinrichtung) und ihre Konsequenzen für die Zukunft werden nicht deutlich gemacht, stattdessen folgt der abschließende Ausblick auf „die Macht des Volkes“ mit dem Märtyrer-Vergleich.
Da gleichzeitig an verschiedenen Stellen des Buches immer wieder betont wird, für wie bedeutsam und positiv der Zusammenschluss von Initiativen und Netzwerken zu einer breiten demokratischen Massenbewegung vom Autor eingeschätzt wird, könnte der Eindruck entstehen, die Verteidigung von Mumia sei praktisch ineffizient, nur die Arbeit der verschiedenen Unterstützungsgruppen sei in der Lage, das Schlimmste verhindern. So wird behauptet, die „aggressive neue Strategie der Verteidigung“ habe zwar nicht „den erhofften Fortschritt an der juristischen Front (gebracht). Stattdessen hatte sie den unerwünschten Nebeneffekt, dass die feinen und manchmal auch groben Spaltungslinien, die die verschiedenen Teile der Unterstützerbewegung für Mumia voneinander trennten, nun vielfach offen aufbrachen, was sich (...) in einer stillschweigenden Reduzierung der Tätigkeit vieler Aktivisten und einer insgesamt schwindenden Stärkung der Bewegung aussagte“ (S. 252). Im Schlussteil ist die Rede von „diversen Streitigkeiten und Querelen über die richtige Strategie im Kampf um die Gerechtigkeit für Mumia“, die dennoch bedeutende Erfolge hatte erzielen können (S. 296). So erstaunlich dieser widersprüchliche Befund auf den ersten Blick sein mag, erklärbar wird er durch den kapitalen Fehler dieses Buches, der zum Schluss behandelt wird.
3. Schiffmanns „wie es wirklich war“ und seine „sensationellen neuen Beweise“
Der mehr oder weniger offen ausgesprochene Versuch des Autors, die Unschuld Mumias zu beweisen, neues selbst recherchiertes Beweismaterial zu präsentieren und den „wahren Schuldigen“ zu denunzieren, scheint sein zentrales Anliegen zu sein, mit dem er auch für seine gegenwärtige Lesereise wirbt. Damit erliegt er der gleichen Versuchung wie viele investigative Journalisten, die über Kriminalfälle berichten. Dies mag die Spannung fördern und in abgeschlossenen Justizfällen verzeihlich sein, in noch anhängigen Verfahren kann es fatale Folgen haben, insbesondere wenn sie von massiven kontroversen Auseinandersetzungen in der Öffentlichkeit begleitet werden.
3.1 Schon die Formulierungen erwecken immer wieder den Verdacht, der Autor wolle sensationelle Enthüllungen veröffentlichen, so mit Abschnitts-Überschriften wie „ein noch schockierenderer Verdacht“ (S. 134), „Was geschah tatsächlich?“ (S. 82), „Große Sensation“ mit der Rede vom „Hollywood Thriller“ (S. 243) u. v. a. m. Dabei kann es weder die Aufgabe der Verteidigung noch die von Unterstützungsgruppen in solchen Justizskandalen und politischen Strafverfahren sein, die „Wahrheit“ zu ermitteln und der Öffentlichkeit zu präsentieren. Und zwar nicht nur weil dies nur in seltenen Glücksfällen möglich sein wird (wie etwa im „Reichstagsbrandprozess“), sondern vor allem, weil dies auf einem grundsätzlichen Missverständnis der Rolle der Strafjustiz im modernen bürgerlich-demokratischen Rechtsstaat beruht: Seit der französischen Revolution und der Aufklärung gehört es zu den wichtigsten demokratischen Errungenschaften, dass der Staat einem Angeklagten die Schuld nachweisen muss. Umgekehrt reicht es, Zweifel an seiner Schuld darzustellen und zu belegen. Begründete Zweifel an der Schuld, nicht mehr und nicht weniger, müssen für Freispruch und Freilassung reichen - dies in das Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit einzuhämmern, ist die Aufgabe der kritischen Öffentlichkeit und der Unterstützungsgruppen.
Die Festlegung auf den „wahren Täter“ Freeman (S.283) kann ebenso verheerende Folgen haben wie die von Schiffmann durchaus problematisierte Strategie des dritten Verteidigerteams, die vor allem auf der Präsentation eines „alternativen Täters“ beruhte, ganz abgesehen von einer Reihe von Widersprüchen und Ungereimtheiten im Wust der Fakten, Indizien und Beweise.
Noch schlimmer wird es, wenn der Autor gegen Ende des Werkes seine eigene Trumpfkarte ausspielt, im Vorwort angekündigt mit den Worten: „So gelang es mir im Mai 2006, neue Bilder vom Tatort des Abu Jamal vorgeworfenen Verbrechens ausfindig zu machen und ausführliche Gespräche mit dem Fotografen zu führen, die ein aufschlussreiches Licht auf die Ereignisse werfen“ (Seite 12). Dieser Teil des achten Kapitels unter der Überschrift „Ein unerwarteter neuer Zeuge“ beschreibt dann die Tätigkeit des Autors in den leuchtendsten Farben: „… war ich elektrisiert, als ich Ende Mai 2006 auf einer Internetseite ganz unverhofft auf zwei Fotos aus der Nacht des 9. Dezember 1981 stieß, die ich noch nie gesehen hatte“ (S. 286). Der so aufgespürte Fotograf P. wurde vom Autor mehrfach ausgiebig befragt, eine Serie seiner Fotos werden in dem Buch veröffentlicht. Von diesem Zeugen wird behauptet, er sei noch nie von Polizei oder Staatsanwaltschaft vernommen worden und habe „die Einzelheiten des Falles nicht verfolgt“ - dies obwohl er offensichtlich die ganzen Jahre als Fotograf in Philadelphia tätig war und über Mumias Prozesse immer wieder in allen Einzelheiten berichtet worden war. Angeblich hatte sich niemand für seine Fotos interessiert, nicht einmal die Verteidigung. Naheliegende Fragen nach der Glaubwürdigkeit eines solchen Zeugen werden nicht erörtert, stattdessen wird eine Palette vom Autor erfragter Einzelheiten als wichtige Munition gegen die Konstruktion der Anklage ausgebreitet und mit Aussagen vom Autor hinzugezogener Schusswaffensachverständiger unterlegt. Ein veritabler „Kronzeuge“ des Autors im „Wettlauf gegen den Tod“ also. Wenn aber Schiffmann diesen wichtigen Zeugen sechs Wochen lang intensiv zu allen möglichen Details befragt und eine Serie seiner (angeblichen) Fotos veröffentlicht, ohne einen einzigen Kommentar der Verteidigung hierzu wiederzugeben, deutet schon dies darauf hin, dass er es nicht für nötig hielt, seine Recherchen mit der Verteidigung abzusprechen. Warum dies wichtig gewesen wäre? Ganz einfach: Ein Zeuge, der in dieser Weise detailliert von einem selbst ernannten Unterstützer der Verteidigung befragt wird, dessen Ergebnisse und das objektives Beweismaterial dazu als Fotoserie veröffentlicht werden, bevor es der Justiz beziehungsweise in den angelsächsischen Ländern der Verteidigung vorgelegt wird, ein solcher Zeuge ist „verbrannt“, seine Aussage möglicherweise wertlos. Einem Autor, der sich immer wieder seiner Kontakte, Interviews und Gespräche mit der Verteidigung rühmt, müsste dies bekannt gewesen sein, zumindest hätte sich ihm die Problematik aufdrängen und eine gründliche Nachfrage wert sein müssen. Hätte er dann doch erfahren, dass zunächst eine gründliche Befragung durch die Verteidigung, die nach bestimmten formalen Regeln in eine eidesstattliche Versicherung mündet (affadavit), hätte durchgeführt werden müssen. Die offensichtliche Unterlassung dieses selbstverständlichen Vorgehens ist für mich nur so erklärbar: Der Autor wollte mit seiner „sensationellen Entdeckung“ nicht nur als Enthüllungsjournalist, sondern auch als Meisterdetektiv in die Geschichte eingehen, eine Erfolgsgeschichte a la „History as it happens“ (so die Überschrift zur persönlichen Einleitung) sich selbst auf die Fahne schreiben. Das mag werbewirksam sein, ist aber dem erklärten Hauptanliegen des Buches kontraproduktiv und gefährlich.
Damit ist das Buch auf halbem Wege zur überzeugenden Anklage gegen die Todesstrafe, die Praxis des Todestrakts und der rassistischen Klassenjustiz der USA im Sensationsjournalismus stecken geblieben und insgesamt als seriöse Unterstützung der Verteidigung ebenso ungeeignet wie als Orientierung in den zukünftigen Auseinandersetzungen um einen neuen Prozess und ein faires Verfahren für Mumia sowie die Abschaffung der Todesstrafe in den USA.
Der Autor arbeitet als Rechtsanwalt in Bremen und Berlin. Näheres unter www.menschenrechtsanwalt.de[2]
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