Mumia Abu-Jamal * junge Welt Nr. 40 - 16./17. Februar 2008
In den 1980er und 1990er Jahren liefen dramatische Nachrichten um die Erde, in denen von Menschen erzählt wurde, die man unter Vorspiegelung falscher Tatsachen narkotisiert und ihnen heimlich innere Organe – beispielsweise eine Niere – entfernt hatte. Einige Horrorfilme bauten auf diesen Schicksalen auf, esselten die Fans dieses Filmgenres und spielten mit dem Schüren der Ängste vor der heimlichen Organentnahme viel Geld ein.
In einem Artikel der New York Times vom 30. Januar 2008 wurde nun darüber berichtet, daß es in einem Land, das als »die größte Demokratie der Welt« gepriesen wird, einen florierenden und schnell wachsenden Markt für den illegalen Handel mit menschlichen Nieren gibt. Die Rede ist von Indien, das mit seiner 2006 auf eine Milliarde Menschen geschätzten Bevölkerung den asiatischen Subkontinent beherrscht. Dort ist ein gut organisierter Markt für billige Spenderorgane entstanden, an dem viele Leute Geld verdienen – nur die armen Opfer nicht, die ihre Nieren verloren haben. Die Betroffenen von illegalen Organentnahmen erzählten, sie seien aufgewacht und hätten im Bauch- und Rückenbereich brennende Schmerzen gespürt.
Fälle von 500 Menschen sind dokumentiert, die meisten von ihnen sind mittellose Arbeiter, Rikschafahrer oder Bauern, die den Status von Leibeigenen haben. Es wurden aber nicht nur Fälle von heimlicher Organentnahme bekannt, sondern zahlreiche Männer berichteten auch, ihnen sei im Tausch für ihre Niere Arbeit angeboten worden. Anderen wurden Beträge von 1000 bis 2500 US-Dollar für eine Niere geboten. Die Männer, die von den Nierenhändlern angesprochen worden waren, stammten zumeist aus Delhi oder aus Uttar Pradesch, einer der ärmsten Regionen Indiens. Den veröffentlichten Berichten nach gehören die Händler einem organisierten Ring an, in dem Sanitäter, Ärzte, Krankenschwestern, Privatkliniken und Pathologien vereint sind. Die Organe werden auf Bestellung besorgt und sind entweder für wohlhabende Inder oder Ausländer bestimmt, die eine Spenderniere brauchen und sich durch das Zahlen großer Geldbeträge vom langen Warten auf den endlosen Listen der Transplantationskliniken freikaufen.
Die Praxis des Organverkaufs basiert auf einer menschenverachtenden Logik, die typisch ist für das Zeitalter der kapitalistischen Globalisierung, in dem alles – ausnahmslos alles – zur Ware wird und an den Meistbietenden verkauft wird. Dem Handel mit Organen, die lebenden Menschen entnommen werden, haftet etwas Makaberes, Alptraumartiges an, das uns an das Labor denken läßt, in dem Frankenstein aus menschlichen »Bauteilen« erschaffen wurde. Der heute real existierende Alptraum ist bezeichnend dafür, als was die Reichen dieser Welt die Armen ansehen. Kaum einer der Männer, denen ihre Organe herausgeschnitten wurden, hat die versprochene Bezahlung erhalten. Sie wurden in eine zum Organring gehörende Klinik gebracht, und vor der Operation wurde nur ihr Blut analysiert. Anschließend wurden sie von bewaffneten Sicherheitskräften eingeschüchtert und bedroht, nach der Operation draußen bloß kein Sterbenswort über die Geschehnisse zu erzählen.
Dies ist die Schattenseite, die öffentlich kaum thematisierte Kehrseite des sogenannten freien Marktes. Dabei muß man wissen, daß Indien kein armes Land ist. Sein Bruttosozialprodukt ist dreimal so hoch wie das von England, seiner früheren Kolonialmacht. Indiens Wirtschaft gehört zu den am schnellsten wachsenden Ökonomien dieser Welt. Der indische Subkontinent ist ein Beispiel dafür, wie es heutzutage inmitten einer erbärmlichen Massenarmut Inseln unvorstellbar großen Wohlstands geben kann. Die ständig weiter auseinanderdriftende Kluft zwischen Arm und Reich ist keine Besonderheit der indischen Gesellschaft, sondern kapitalistische Globalisierung in Reinkultur: Alles ist käuflich.
Übersetzung: Jürgen Heiser