Kolumne 27.09.08: Die Opfer der Krise

27.09.08 (von maj) Zwangsvollstreckungen, Scheidungen, Selbstmorde: Millionen kleinere Kreditnehmer stehen nach dem US-Finanzcrash vor dem Ende ihrer Existenz – und werden ignoriert

Mumia Abu-Jamal * junge Welt Nr. 227 - 27./28. Sept. 2008

Die beiden Präsidentschaftskandidaten Barack Obama und John McCain können ihre aufwendigen Wahlkampagnen nur führen, weil sie jeweils über Wahlkampfkassen verfügen, die mit Abermillionen US-Dollars gefüllt sind. Gespendet wurden diese Mittel sowohl von Konzernen und reichen Einzelpersonen als auch von unzähligen Unterstützern aus dem sogenannten einfachen Volk, die selbst gerade über die Runden kommen. Während beide Kandidaten sich öffentlich mit der Krise des Banken- und Finanzsystems auseinandersetzen, vermißt man allerdings, daß die Nöte der Kleinkredit- und Hypothekennehmer auf ähnliche Weise behandelt werden.
Über eine Million Eigenheimbesitzer, die meisten von ihnen aus den Stadtvierteln mit überwiegend schwarzer oder hispanischer Bevölkerung, sind mittlerweile massenhaft Opfer von Zwangsvollstreckungen geworden. Sie haben nicht nur ihr Zuhause verloren, sondern ihre Ersparnisse und Vorkehrungen zur Alterssicherung. Doch die Politik geht darüber hinweg, als wäre das nur ein Randproblem der aktuellen Wirtschafts- und Finanzkrise. Wen wundert es, daß der Eindruck entsteht, die Politiker würden nur dafür bezahlt, sich um den Besitzstand der Banken und Konzerne zu kümmern?
Als die Subprime-Schuldenblase platzte, schüttete der Präsident der US-Notenbank, Ben Bernanke, innerhalb weniger Stunden 200 Milliarden US-Dollar an Staatsgarantien aus, um die Hypotheken- und Kreditwirtschaft zu stützen. Die Regierung nutzte also ihre politische Macht, ein System zu retten, das sich mit geradezu kriminellen Methoden an hochspekulativen Risikoanleihen bereichert hatte. Es wurde ein Fünftel einer Billion aus Steuergeldern dafür aufgewendet, jene zu retten, die Millionen Menschen ins Unglück gestürzt haben, indem sie ihnen Kreditverträge verkauften, deren Tilgung schon bei Vertragsabschluß aussichtslos war. Für jene Millionen aber stellte der Staat keinen Cent zur Rettung ihrer Familienhaushalte zur Verfügung.
Der einzige Politiker, der diese Praxis öffentlich angriff, war Eliot Spitzer von der Demokratischen Partei. Er war von 1994 bis 1998 Generalstaatsanwalt und ab Januar 2007 Gouverneur von New York. Am 17. März 2008 jedoch mußte er zurücktreten und verschwand mitsamt seiner Kritik sehr plötzlich von der Bildfläche: Die Medien hatten Spitzer Kontakte zu Prostituierten vorgeworfen und diesen Skandal breitgetreten.
Auffällig ist an der Subprime-Krise, daß sie bestimmte Bevölkerungskreise stärker betrifft als andere. Statistiken belegen, daß zu den betroffenen Kre­ditnehmern 73 Prozent afroamerikanische oder hispanische Haushalte mit einem höheren Einkommen gehören, aber nur 17 Prozent weiße Haushalte mit vergleichbarem Einkommen. Es fällt schwer, das als Zufall abzutun.
Die wirtschaftlichen und politischen Turbulenzen, die von der Habgier der US-Finanzwirtschaft ausgelöst wurden, haben nicht nur die Vereinigten Staaten erschüttert, sondern senden ihre Schockwellen bis nach Übersee, wo Banken, Konzerne und Regierungsinstitutionen verschiedener Länder viel Geld in dieses Geschäft mit Risikoanleihen investiert haben. Im Inland schlägt die Krise vor allem auf die Wohnungsbauwirtschaft durch, deren Auftragslage dramatisch schlecht ist. Kredite für Eigenheimbauten sind kaum noch zu bekommen. Der Internationale Währungsfonds (IWF) schätzt, daß die Verluste von Banken und Investoren sich auf etwa eine Billion US-Dollar belaufen werden.
Doch für Millionen Menschen wird der Verlust weitaus dramatischer sein. Mit ihrem Zuhause verlieren sie auch ihre Lebensträume und in vielen Fällen auch ihre Familien. Niemand weiß, wie viele Scheidungen diese Katastrophe nach sich ziehen wird, wie viele Familien unter diesem Druck zerbrechen und Menschen ihrem Leben gar ein Ende setzen.
Nach Angaben darüber wird man auch zukünftig vergeblich suchen in den kalten Statistiken der Kassenbücher der Finanzinstitute. Diese nichtökonomischen Verluste gehen aber ebenfalls auf das Konto der nackten Habgier von Banken und Investmentfirmen und der willfährigen Blindheit einer neoliberalen Staatsführung, die sich völlig der Deregulierung verschrieben hat.

(Übersetzung: Jürgen Heiser)


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Stand: 24.11.2024 um 00:20:28 Uhr