Kolumne 21.03.09: Wollt ihr noch mehr?

21.03.09 (von maj) Das Finanzkapital hat die Wirtschaft geplündert, deshalb soll es nicht scheitern dürfen

Mumia Abu-Jamal * junge Welt Nr. 68 - 21./22. März 2009

Den Lesern des Neuen Testaments der Bibel veranschaulicht das Matthäus-Evange­lium die Wut des Jesu von Nazareth, als er die Geldwechsler aus dem Tempel jagt, weil sie diesen Ort nach seinen Worten in eine »Räuberhöhle« verwandelt haben. Dieses Ereignis ist deshalb so denkwürdig, weil der Protagonist nicht nur wütend ist, sondern auch konsequent handelt. Einige Karikaturisten haben ihn unlängst dargestellt, wie er die heutigen Geldwechsler aus dem Tempel jagt und diese im Angesicht der von ihnen angerichteten Katastrophe Fersengeld geben.
Eben dieses Bild war schon einmal von US-Präsident Franklin D. Roosevelt (1882–1945) bemüht worden, als er seine Antrittsrede hielt, von der bis heute vor allem der Satz in Erinnerung blieb: »Das Einzige, was wir fürchten müssen, ist die Furcht selbst.« Die Situation war damals ähnlich wie heute: das Land litt unter einer schweren Wirtschaftskrise, der abgewählte Präsident Herbert Hoover galt wie George W. Bush als Versager. Als Hoffnungsträger wurde Franklin Delano Roosevelt vereidigt. In seiner kurzen Ansprache enttäuschte er die Erwartungen nicht. Er prangerte die Verantwortlichen an: »Es liegt dies in erster Linie an der Verbohrtheit und Unfähigkeit derjenigen, die den Austausch der Menschheitsgüter zu regeln hatten. Sie haben versagt, haben ihr Versagen zugegeben und abgedankt. Die Machenschaften der gewissenlosen Geldwechsler stehen am Pranger der öffentlichen Meinung und werden vom Herzen und Verstand des Volkes verworfen.« Roosevelt weiter: »Die Geldwechsler sind von ihren Hochsitzen im Tempel der Zivilisa­tion geflüchtet. Jetzt können wir diesen Tempel wieder den uralten Wahrheiten überantworten. Wie weit uns das gelingen wird, hängt von dem Ausmaß ab, in dem wir soziale Werte schaffen, die edler sind als bloßer finanzieller Gewinn.«
Man bedenke, daß diese Worte am 4. März 1933 gesprochen wurden. Das ist 76 Jahre her, aber erneut haben jene, »die den Austausch der Menschheitsgüter zu regeln hatten«, versagt, und die Nation befindet sich im Würgegriff einer eiskalten Depression. Vor sechs Monaten hat Expräsident Bush dem Land versichert, die Wirtschaft sei »gesund«, obwohl die Nation bereits damals unter einer Rezession litt.
Wenn wir uns auch heute vielleicht noch nicht in einer echten Depression befinden, dann sind wir davon jedenfalls nicht weit entfernt. Trotzdem ist heute nicht 1933. Die Geldwechsler, die die Wirtschaft auf Grund gefahren haben, sind weit davon entfernt, sich ihre Niederlage einzugestehen. Im Gegenteil, sie machen weiterhin viel Geld. Jetzt ist es das Geld der Steuerzahler, das ihnen bereitwillig zugeschoben wird, und sie werden auch diese Unsummen zu Asche verbrennen: Je mehr sie haben, desto mehr verlangen sie. Diese Geldwechsler werden nicht mit der Peitsche aus dem Tempel gejagt, man stellt ihnen sogar noch größere Tische auf, damit sie ihr Unwesen weitertreiben können. Man braucht sich nur anzuschauen, was bei AIG, Goldmann Sachs und der Citigroup geschieht – es geht nicht nur um mehr, sondern um mehr und immer mehr Geld. Warum? Weil die Führungskräfte des Finanzkapitals in den Augen Washingtons und der US-Notenbank zu groß sind, als daß sie scheitern dürfen.
Ihr Betätigungsfeld ist keine »Räuberhöhle«, sondern geradezu ein Prunktempel hinterhältiger Diebe und Räuber. Die Banken haben Millionen Menschen um ihre Ersparnisse und ihre soziale Absicherung gebracht und sich an dem, was ihnen anvertraut wurde, ungehindert schadlos gehalten. Und dafür, daß sie die Wirtschaft geplündert haben, werden sie sogar noch reichlich entlohnt. Und das einzige, was den Politikern dazu einfällt, ist die Frage: »Wollt ihr noch mehr?«

Übersetzung: Jürgen Heiser


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Stand: 24.11.2024 um 00:23:29 Uhr