Kolumne 13.06.09: Latenter Rassismus

13.06.09 (von maj) Die Hautfarbe »Weiß« ist in den USA keine Farbe, sondern eine exklusive Herrschaftsdomäne

Mumia Abu-Jamal * junge Welt Nr. 135 - 13./14. Juni 2009

Ende Mai hat US-Präsident Barack Obama die Juristin Sonia Sotomayor, derzeit noch Richterin am New Yorker Bundesberufungsgericht, als seine Kandidatin für den Obersten Gerichtshof der USA vorgestellt. Sie soll die Nachfolge von Richter David Souters antreten, der sein Amt freiwillig aufgibt.
Nach 107 weißen Männern und zwei weißen Frauen in über 220 Jahren Geschichte des Obersten Gerichtshofs würde nach dem Willen des ersten schwarzen US-Präsidenten eine Juristin den Olymp der US-amerikanischen Jurisprudenz erklimmen, die zwar in der New Yorker Bronx geboren wurde, deren Eltern aber aus Puerto Rico stammen. Puerto Rico war eine Kolonialbeute aus dem spanisch-amerikanischen Krieg, die nach einem Grundsatzurteil jenes Gerichtshofs, dem Sotomayor ab Oktober angehören soll, »Besitz, nicht Teil der USA« ist.
Kräfte der politischen Rechten nennen die 54jährige Juristin verächtlich eine »Rassistin«, die »umgekehrten Rassismus« betreibe, und sie sei aufgrund ihrer Herkunft »voreingenommen«. Wenn mit solchen Begriffen hantiert wird, muß es um mehr gehen als das Steigern von Auflagenhöhen und Einschaltquoten. Tatsächlich werden mit dieser Kampagne die anstehenden Senatsanhörungen, die Sotomayors endgültiger Ernennung zur Richterin am höchsten Gericht der USA vorausgehen, mit entsprechender Munition versorgt.
Es fällt schwer, sich ernsthaft mit den von Rush Limbaugh, der Radiostimme der extremen Rechten, und Newt Gingrich, dem möglichen Gegenkandidaten von Obama bei den Wahlen 2012, und von deren republikanischem Parteifreund Tom Tancredo lancierten »Rassismus«-Vorwürfen gegen Sotomayor auseinanderzusetzen. Alle drei sind berüchtigt wegen ihrer xenophobischen Ausfälle gegen mexikanische Immigranten, weshalb sich viele sogenannte Latinos, die mittlerweile die größte Bevölkerungsgruppe in den USA stellen, von der Republikanischen Partei abwandten.
Die Vorgänge um Sonia Sotomayor sind wichtig genug, sich einmal genauer mit der Frage zu befassen, ob »Latinos« in den USA eine eigene »Rasse« sind, wie der landläufig falsch benutzte Begriff für Ethnie in den USA lautet. Die Antwort ist kurz: nein. »Latinos« oder »Hispanics« sind in den USA zwar zu einer linguistischen und kulturellen Bevölkerungsgruppe mit einem zunehmenden Selbstbewußtsein zusammengewachsen, aber sie repräsentieren eine unglaublich große Vielfalt. In Wirklichkeit sind die Latinos, von denen wir hier sprechen, ein Konglomerat aus vielen Ethnien und Kulturen, das sich über Jahrhunderte entwickelt hat.
Unter ihnen sind viele, die eine dunklere Hautfarbe haben als durchschnittliche Afroamerikaner. Sie stammen aus Ländern wie Puerto Rico, der Dominikanischen Republik oder Mexiko, werden aber alle unter »Latinos« zusammengefaßt. Daraus wäre schon einmal die Lehre zu ziehen, daß »Rasse« oder »Ethnie« ein vom Nationaldenken bestimmtes Konstrukt ist, das sich schon beim Überschreiten einer Staatsgrenze verändern kann.
Aus heutiger Sicht scheint es so, als habe es vor Jahrzehnten noch keine »Latinos« oder exklusive Herrschaftsdomäne »Hispanics« in den USA gegeben. Daran stimmt zumindest, daß diese Begriffe noch nicht verwendet wurden. Migranten wurden nach ihrem Herkunftsland definiert. Aber Leben, Erfahrungen und Träume von Menschen können zutiefst unterschiedlich sein, je nachdem, ob ihre Familien aus Mexico, Puerto Rico, Panama, Ecuador, Argentinien oder Kuba stammen. Sie alle sind irgendwie »Latinos«, aber schon von ihrer äußeren Erscheinung her sind sie weiß, rot, braun oder schwarz. Die Linien ihrer familiären und genetischen Vorgeschichten lassen sich zurückverfolgen bis nach Spanien, Italien, Lateinamerika und Afrika. Alles in allem sind »Latinos« also keine »Rasse« im Sinne der Bedeutung, die dieses Wort in den USA hat, sondern eine durch Sprache und multikulturelle Einflüsse geprägte große Bevölkerungsgruppe von atemberaubender Vielfalt.
Die Ironie der Auseinandersetzung um die Kandidatin für das höchste Richteramt ist die, daß Sonia Sotomayor, wäre sie nicht in der Bronx, sondern in einem beliebigen lateinamerikanischen Land geboren worden, auf ihrer Geburtsurkunde den Vermerk »blanca« stehen hätte, um ihre weiße Hautfarbe zu dokumentieren. Nur in den USA wird sie zu einer »person of color«, einer »farbigen Person«, weil der Begriff »weiß« hier sehr eng ausgelegt wird und eine exklusive Herrschaftsdomäne ist.

Übersetzung: Jürgen Heiser


Ausdruck von: http://freedom-now.de/news/artikel516.html
Stand: 24.11.2024 um 01:44:26 Uhr