Kolumne 10.10.09: Haß auf Mädchen und Jungen

10.10.09 (von maj) Millionen Kinder Opfer von Ausbeutung, Gewalt, Hunger und anderen profitbringenden Verbrechen

Mumia Abu-Jamal * junge Welt Nr. 235 - 10.10. Oktober 2009

Wer die Nachrichten über den Bericht der UNICEF, des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen, zu den Kinderrechtsverletzungen in der Welt hört, glaubt keinem Politiker mehr, der öffentlich gelobt, etwas »für die Kinder« tun zu wollen. Zwanzig Jahre nach Unterzeichnung der UN-Kinderrechtskonvention schildert der Bericht, wie tagtäglich Millionen Mädchen und Jungen Opfer von Ausbeutung, Gewalt, Menschenhandel, Hunger und medizinischer Nichtversorgung werden. Mädchen werden obendrein noch in hoher Zahl genitalverstümmelt und zwangsverheiratet. Es kann kaum trösten, daß wenigstens diese Menschenrechtsverletzungen leicht rückgängig sind.
Laut UNICEF gehen etwa 150 Millionen Kinder unter 15 Jahren niemals zur Schule. Sie müssen statt dessen hart arbeiten, weil sonst weder sie noch ihre Familien überleben würden. Mindestens eine Million Mädchen und Jungen vegetieren weltweit in Gefängnissen, wobei es in mehr als der Hälfte der Fälle weder Gerichtsverfahren gegeben hat noch Behörden außerhalb der Gefängnisse sich um das Schicksal dieser Kinder kümmern. Die Mehrheit der Kinder hat keine schweren Vergehen oder Verbrechen begangen. Auch hinter Gittern sind sie krimineller Ausbeutung ausgeliefert.
Schauen wir uns die Realität in den USA an. Wenn eins klar ist in diesem Land, dann das: Kinder werden offensichtlich auch hier gehaßt. Wem das zu pauschal ist oder wer das Wort Haß unpassend findet, um unser Verhältnis zu ihnen auszudrücken, der sollte die Art und Weise, wie hier mit Kindern umgegangen wird, schonungslos untersuchen. Bei nüchterner Betrachtung können wir zu keinem anderen Schluß kommen.
Jonathan Kozol hat mit seinem 1967 veröffentlichten Standardwerk »Death At An Early Age« (Tod in jungen Jahren) seine mehrjährige Tätigkeit als Aushilfslehrer in staatlichen Schulen des Schwarzenghettos Boston-Roxbury beschrieben. Dort wurden Kinder zur Strafe noch in dunkle Keller gesperrt und mit Ruten geschlagen. Aber was unten im Kellergeschoß dieser Einrichtungen passierte, ist kaum dramatischer und betrüblicher gewesen als das, was oben in den Klassenzimmern geschah. Die systematische Vergewaltigung des Denkens Abertausender Kinder in einem rassistischen Schulsystem kommt nach Kozols Worten einer »intellektuellen Enthauptung« gleich. Die Verhältnisse, die Kozol dort erlebt hat, haben zu einer Schulaussteigerrate von 50 Prozent geführt. Vergleichbar sind die Bostoner Verhältnisse sicher auch mit der Lebenssituation in Chicago, Philadelphia, Baltimore und Harlem. Öffentliche Schulen sind Orte, in denen das Denken und die Seelen der Kinder getötet werden. Kaum daß die Kids groß geworden sind, werden sie von alten Männern in Uniformen gesteckt und in sinnlose Schlachten geschickt. Was ist der »Krieg gegen den Terror« anderes als ein dummer Spruch, der dazu dient, die Lügen von angeblichen »Massenvernichtungswaffen« besser verkaufen zu können? Und was sind Soldaten anderes als unsere kaum erwachsen gewordene Kinder, die dem Wahnsinn überantwortet werden und sich für Macht und Reichtum der alten Männer töten und verstümmeln lassen?
Unzählige Vorschul- und Schulkinder in den USA, manche von ihnen nicht älter als vier Jahre, werden täglich mit Drogen wir Ritalin vollgepumpt, weil ihnen von Erwachsenen das Etikett »Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung« (ADHS) angeheftet wird. Was nichts anderes heißt, als daß es diesen Kindern und Jugendlichen schwerfällt stillzusitzen, während wir ihre wache Aufmerksamkeit mit dem langweilen, was wir für »Bildung« halten.
Im Vorwort des UNICEF-Reports erklärt Ann Veneman, die Direktorin der Organisation: »Das Ausmaß der Kinderrechtsverletzungen zu erfassen ist ein erster Schritt, um eine Umgebung für Kinder zu schaffen, in der sie geschützt aufwachsen und sich entwickeln können.« Um die Kinderrechte zu stärken, müßten vor allem die Schutzsysteme verbessert werden. Nötig seien dafür breite Bündnisse zwischen Regierung, Wirtschaft und Zivilgesellschaft.
Wenn diesen Worten nicht umgehend Taten folgen, werden wir unseren Kindern einen kranken und vergifteten Planeten hinterlassen und eine Welt, in der es in den Kinderseelen brodelt vor Wut und Haß auf die Generation ihrer Väter und Mütter.

(Übersetzung: Jürgen Heiser)


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Stand: 24.11.2024 um 00:41:52 Uhr