Mumia Abu-Jamal * junge Welt Nr. 270 - 21./22. November 2009
Einer der größten Analytiker und Kritiker des Kolonialismus war der 1925 auf der Antilleninsel Martinique geborene Psychiater, Schriftsteller und politische Aktivist Frantz Fanon. Dr. Fanon konzentrierte sich in seinem Lebenswerk auf die Krise des Kolonialismus in Afrika, vor allem in Algerien, das unter französischer Herrschaft stand. Er arbeitete für die Nationale Befreiunsgfront FLN und nach Erlangung der Unabhängigkeit seines Landes zeitweise als Botschafter der algerischen Regierung in Ghana. Fanon starb im Dezember 1961 in den USA an Leukämie, im selben Monat, in dem sein Hauptwerk »Die Verdammten dieser Erde« veröffentlicht wurde, das bis heute als ein Manifest des Antikolonialismus gilt.
Fanon schuf die Grundlagen eines Bewußtseins, daß der Kolonialismus ein globales Phänomen ist, das außer Afrika auch Asien und Lateinamerika betraf. Doch viele von uns halten den Kolonialismus für ein Problem der Vergangenheit. Aber ist er wirklich bereits Geschichte? Angesichts der Lage in vielen Ländern müssen wir erkennen, daß diese Einschätzung nicht unbedingt der Wirklichkeit entspricht. Wir sollten uns klarmachen, daß sich Dinge manchmal nur in der Form verändern, nicht aber in ihrem wesentlichen Inhalt. Entscheidend ist deshalb, was die Menschen in den betroffenen Ländern und Kontinenten denken.
Am 28. Juli 2009 hat eine Gruppe pakistanischer Politiker, Intellektueller, Aktivisten und Wissenschaftler einen kurzen, aber aufschlußreichen Bericht über die Probleme verfaßt, mit denen ihr Land konfrontiert ist. In ihrem 120 Seiten umfassenden Bericht mit dem Titel »Making Pakistan a Tenable State: What Needs to be Done« benennen die Autoren 185 Punkte, woran ihr Land leidet und wie es wieder stabilisiert werden könnte. Unter Punkt 14 heißt es darin: »Pakistan befindet sich heute völlig im Griff einer Welt aus Liberalisierung, Globalisierung, Privatisierung und dem sogenannten ›Krieg gegen den Terror‹. Durch wirtschaftliche und politische Abkommen ist Pakistan zu einer Politik verpflichtet, die uns von außen aufgezwungen wird. Genauso sind wir bezüglich unserer Verteidigungspolitik und militärischen Strategien gegen Aggressionen von außen völlig abhängig von den mit den USA geschlossenen Verträgen. Häufige Besuche der offiziellen Vertreter des US-Außen- und des Verteidigungsministeriums in Pakistan sind ein Indikator für die Einflußnahme der Supermacht, der wir unterworfen sind. Kein Wunder, daß Pakistan in der ganzen Welt als ein Satellitenstaat der USA angesehen wird. Der Ausdruck ›Satellitenstaat‹ ist nichts anderes als ein neuer Begriff für ›Kolonie‹ im 21. Jahrhundert. Das Wort ›Satellit‹ erweist sich als alles andere als harmlos, wenn man sich vor Augen führt, daß eine so bezeichnete Nation nicht frei über ihre Innen- und Außenpolitik entscheiden kann, sondern sich dem Willen einer fremden Macht unterwerfen muß.«
Der Bericht erläutert Pakistans Kolonialgeschichte, als es noch zu Indien gehörte. Der Staat Pakistan entstand 1947 aus den mehrheitlich muslimischen Teilen Britisch-Indiens, während die Gebiete mit vorwiegend hinduistischer Bevölkerungsmehrheit sowie der größte Teil des überwiegend muslimischen Kaschmir im heutigen Indien aufgingen. 1956 rief sich Pakistan zur ersten Islamischen Republik der Erde aus. Heute kontrollieren Geldadel und Finanzkapital die ländlichen Gebiete und die dort ansässigen Großgrundbesitzereliten.
Wenn wir aufrichtig sein wollen, können wir Staaten wie Pakistan nicht als Demokratien bezeichnen. Sie sind nur dem Namen nach »Demokratien«, in Wirklichkeit aber völlig abhängig von der Supermacht USA und ihren westlichen Verbündeten.
(Übersetzung: Jürgen Heiser)