Kolumne 27.02.2010: Geschichte von unten

27.02.10 (von maj) Howard Zinn betrieb Wissenschaft stets aus der Perspektive der Ausgebeuteten und Unterdrückten

Mumia Abu-Jamal * junge Welt Nr. 49 – 27./28. Februar 2010

Genau vor einem Monat ist im kalifornischen Santa Monica der legendäre Historiker Howard Zinn im Alter von 87 Jahren verstorben. Angesichts seines hohen Alters müßte es eigentlich nicht überraschen, von seinem plötzlichen Herztod zu hören. Nicht glauben mochten aber all jene die bittere Nachricht, die ihn näher kannten. Denn auch wenn er auf die 90 zuging, merkte man ihm sein Alter kaum an. Mit leuchtenden Augen hielt er immer noch brillante Vorträge, und sein Sinn für Humor verlieh diesen Vorträgen eine spritzige Frische und seinem Schreiben eine besondere persönliche Note.
Seinen hohen Bekanntheitsgrad verdankte Zinn seinem Meisterwerk »A People’s History of the United States«, das unter dem Titel »Eine Geschichte des amerikanischen Volkes« seit 2007 auch in deutscher Übersetzung vorliegt. Von der Originalausgabe wurden über eine Million Exemplare verkauft. Zinn war einer der Begründer der US-amerikanischen »Geschichtsschreibung von unten«. Er betrieb seine Forschung aus der Perspektive der Mehrheit der Menschen am Boden der Gesellschaft und nicht der Minderheit an der Spitze. Ihm ging es um schwarze Sklaven, die für ihre Freiheit, und Ureinwohner, die für ihre Souveränität kämpften. In Armut lebende weiße Arbeiter, die für ihr Recht auf gewerkschaftliche Organisierung eintraten, Frauen, die für ihr Wahlrecht und ihr Recht auf Arbeit stritten. Soldaten, Schwule, Gefangene und Studierende, die kämpfend die Geschichte ihres Landes kennenlernen wollten.
Obwohl Zinn in der Tat ein hervorragender, bahnbrechender Historiker war, schrieb er über Arme und das einfache Volk nicht aus der Distanz eines Wissenschaftlers. Er selbst stammte aus sehr ärmlichen Verhältnissen in New York, ging während des Zweiten Weltkriegs zur US-Air Force und wurde Bombenschütze. Wie viele andere junge Soldaten auch las er sehr viel. Nach der Entlassung aus der Armee nutzte er ein GI-Stipendium zum Studium und schrieb sich zunächst an der New York University ein, wo er 1951 seinen Bachelor machte und 1958 an der Columbia University promovierte.
Er wurde Lehrer am Spelman College in Atlanta, Georgia, wo er seinen Horizont auf eine Weise erweiterte, wie er es selbst nicht geplant hatte. Der Grund dafür war, daß sich in dieser Zeit die Bürgerrechtsbewegung explosionsartig ausbreitete. Schüler und Studenten protestierten gegen das amerikanische Apartheidsystem. Auch am Spelman College, an dem nur schwarze Frauen studierten, ergriffen junge Aktivistinnen die Initiative. Als sie versuchten, ihren Protest in Form von Flugblättern an die Öffentlichkeit zu tragen, wurden sie von Polizisten bedroht und daran gehindert.
Zinn unterrichtete diese Studentinnen in Rechtsgeschichte und Verfassungsrecht und begriff durch diesen Vorfall, daß Bücher über Jura und Rechtsprechung in der Realität des Lebens unter dem Apartheidregime im US-Südstaat Georgia keine Bedeutung hatten. Anschaulich schilderte er das in seinem 1991 erschienen Buch »Declarations of Independence: Cross-Examining American Ideology« (Unabhägigkeitserklärungen: Die amerikanische Ideologie im Kreuzverhör):
»Rechtlich war die Sache klar: Eine Reihe von Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs hatten das uneingeschränkte Recht zum Verteilen von Flugblättern an öffentlichen Orten festgeschrieben. Man hätte in der Bill of Rights nichts finden können, was eindeutiger formuliert gewesen wäre.
Ich erzählte meinen Studentinnen davon. Aber mir wurde auch sofort klar, daß ich ihnen noch etwas anderes erzählen mußte; daß nämlich die Gesetze manchmal nicht das Papier wert sind, auf dem sie stehen. Wenn sie also auf der Peachtree Street Flugblätter verteilen würden und ein weißer Polizist (alle Polizisten in Atlanta waren damals weiß) käme und würde sie auffordern ›Verschwindet!‹, was könnten sie dann tun? Dem Polizisten die entsprechenden Grundsatzurteile des Obersten Gerichtshofs zitieren.«
Das war die Situation im Atlanta des Jahres 1961, als die Bürgerrechtsbewegung dem Historiker Howard Zinn einige lehrreiche Lektionen über die Wirklichkeit in den USA erteilte.

Übersetzung: Jürgen Heiser


Ausdruck von: http://freedom-now.de/news/artikel605.html
Stand: 24.11.2024 um 01:59:53 Uhr