Kolumne # 513 vom 23.10.2010: Tempel der Furcht und Rache

23.10.10 (von maj) Politisches Unrecht und soziale Ungleichkeit sind Voraussetzungen für Verhängung der Todesstrafe

Mumia Abu-Jamal * junge Welt Nr. 248 – 23./24. Oktober 2010

Im Juli 1976 wurde in den USA die Todesstrafe wiedereingeführt. Als Voraussetzung, ein höheres Amt zu erhalten, galt seitdem für jeden Politiker, öffentlich für diese einzutreten. Dabei war es sehr populär, einzelne Fälle – und zwar immer die grausigsten – herauszugreifen, um Verallgemeinerungen über die Gefangenen in den Todestrakten vorzunehmen und die gegen sie verhängten Urteile zu rechtfertigen.
Diese Pauschalisierungen haben wenig mit der gesellschaftlichen und sozialen Wirklichkeit der Inhaftierten und ihrer Taten zu tun. Die Politiker reden über die in den Todestrakten gehaltenen Menschen, als seien sie die Schlimmsten der Schlimmen, wahre Monster. Niemand spricht indes davon, daß Tausende Männer, Frauen und Jugendliche geringere Strafen für ähnliche oder sogar identische Straftaten erhalten, für die andere ihr Leben verlieren sollen. Der Fall der erst kürzlich trotz weltweiter Proteste in Virginia hingerichteten Teresa Lewis war ein dramatischer Fingerzeig auf diese Tatsache. Wegen »Anstiftung zum Mord« wurde Lewis zum Tode verurteilt, die beiden wegen Ausführung des Mordes verurteilten Männer aber zu lebenslanger Haft.
Andere Angeklagte sehen den Todestrakt niemals von innen, weil sie sich dank ihres Reichtums teure Anwälte ihres Vertrauens leisten können. Das Strafjustizsystem bezeichnet sich selbst als »gerecht«, aber es urteilt unter Berücksichtigung von Privilegien, Reichtum, Macht, sozialem Status und nicht zuletzt der Hautfarbe, wer im Todestrakt landen soll und wer nicht.
Im US-Bundesstaat Pennsylvania macht der Anteil der Afroamerikaner an der Bevölkerung neun Prozent aus, doch stellen sie annähernd zwei Drittel der Gefangenen in den Todestrakten. Neben rassistischen Vorverurteilungen liegt das auch daran, daß in Städten wie Philadelphia, Houston und Miami bürgerliche Politiker ihre Karrieren darauf aufbauen, Menschen der Unterklassen hinter Gitter und in die Todestrakte zu stecken. Doch sorgen sie so – entgegen ihrer Behauptungen in Propagandareden – nicht für mehr Sicherheit ihrer Wähler. Genausowenig stützen sie damit Gesetz und Rechtsprechung. Sie offenbaren schlicht die Parteilichkeit der Justiz.
Niemand sollte vergessen, daß die überwältigende Mehrheit der Menschen in den US-Todestrakten aus armen Verhältnissen stammt. Sie sind nicht in der Lage, die Mittel für eine adäquate Verteidigung aufzubringen, um mit ihren staatlichen Kontrahenten, die über alle Macht und unbegrenzte Mittel verfügen, mithalten zu können.
Der bekannte und wohlhabende schwarze Footballspieler Orenthal James Simpson wurde 1995 von der Anklage freigesprochen, seine von ihm geschiedene Ehefrau und deren Freund ermordet zu haben. Doch der Prozeß gegen O. J. Simpson machte deutlich, daß jemand, der Millionenhonorare an Staranwälte zahlen kann, selbst in dem klassischen Fall, der für den Angeklagten immer im Todestrakt endet – »schwarzer Mann ermordet weiße Frau« – davonkommen kann. In Pennsylvania, New Jersey, New York, Florida, Texas und Kalifornien wurden die meisten Leute vor allem deshalb zum Tode verurteilt, weil sie nur schlecht bezahlte und unmotivierte Pflichtverteidiger hatten.
Eines der meistverbreiteten Argumente für die Todesstrafe ist, daß sie durch Abschreckung hilft, Straftaten zu verhindern. Zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen haben längst das Gegenteil bewiesen. Das einzige, was wirksam verhindert wird, ist rationales Denken. Wie kann es in einer angeblich aufgeklärten Gesellschaft sonst möglich sein, daß diese barbarische Strafe Anwendung findet? Solange wir nicht die üble Irrationalität der Todesstrafe erkennen, werden wir Stein für Stein – Exekution für Exekution – einen finsteren Tempel der Furcht und Rache erbauen. Wie viele Leben werden noch auf seinem Altar geopfert?

Übersetzung: Jürgen Heiser

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