Kolumne # 517 vom 20.11.2010: Die Terrorismus-Heuchelei

20.11.10 (von maj) Wenn Staaten Greueltaten begehen, feiern sie das als Ausdruck »demokratischer Kultur«

Mumia Abu-Jamal * junge Welt Nr. 272 – 20./21. November 2010

Der am 27. Januar 2010 im Alter von 87 Jahren verstorbene US-Wissenschaftler Howard Zinn war ein herausragender Historiker, Politikwissenschaftler und emeritierter Universitätsprofessor der Boston University. Den Schwerpunkt seiner Geschichtsforschung bildeten die Bürgerrechts- und Friedensbewegungen. Als Theoretiker und Praktiker einer »Geschichte von unten« trug Zinn im wesentlichen dazu bei, ein völlig verändertes Bewußtsein über die Geschichte der USA zu schaffen. Sein bekanntestes Werk »A People’s History of the United States« erschien anfangs nur in wenigen tausend Exemplaren, verbreitete sich dann aber wie ein Lauffeuer und erreichte allein in englischer Sprache eine Auflage von mehr als einer Million. Mittlerweile ist es unter dem Titel »Eine Geschichte des amerikanischen Volkes« vor wenigen Jahren auch auf Deutsch erschienen. Dieses detail- und umfangreiche Werk stellt den gelungenen Versuch dar, die US-Geschichte aus der Perspektive der Unterdrückten zu analysieren.
Als politischer Mensch war Zinn einer unserer größten Kritiker der Kriege, im besonderen der imperialen Kriege. Es überraschte deshalb nicht, daß sein letztes Werk »Doubt With War: Wars for Empire and Capital« (Zweifel am Krieg: Kriege für Impe­rium und Kapital), das erst nach seinem Tod erschien, dabei ist, ein großer Erfolg zu werden.
Howard Zinn greift darin den Grundgedanken einer positiven Betrachtungsweise der US-Atombombenabwürfe auf Japan an. Genauer gesagt: auf die japanische Zivilbevölkerung von Hiroshima und Nagasaki im August 1945. Zinn entwickelt seine Kritik aus der Perspektive der heutigen gesellschaftlichen und medial gesteuerten Debatten um den »Terrorismus«, um zu zeigen, wie zutiefst heuchlerisch vor allem die offizielle Politik der USA ist. Zinn schreibt: »Wenn private Gruppierungen oder Fanatiker Greueltaten begehen, dann nennen wir sie ›Terroristen‹, was sie auch sind, und wir haben kein Problem damit, ihre Gründe zurückzuweisen. Aber wenn Regierungen das gleiche tun, und meist auch noch in weitaus größeren Ausmaßen, wird der Begriff ›Terrorismus‹ nicht darauf angewendet. Wir betrachten es sogar als Ausdruck unserer ›demokratischen Kultur‹, wenn diese Taten zum Thema gesellschaftlicher Debatten werden. Wenn das Wort ›Terrorismus‹ aber eine sinnvolle Bedeutung hat – und ich glaube, daß es sie hat, weil damit Handeln abgegrenzt wird, das nicht tolerierbar ist, sofern es den willkürlichen Einsatz von Gewalt gegen Menschen zu beliebigen politischen Zwecken einschließt – dann trifft dieses Wort vor allem auf die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki zu.«
Für Zinn stellt Krieg an sich eine Verletzung der grundlegenden Menschenrechte dar: Das Recht auf Leben, das Recht auf Achtung der Würde des Menschen, das Recht auf Teilhabe am gesellschaftlichen Fortschritt. Würde Zinn noch leben, dann wäre er vermutlich genauso kritisch gegenüber dem immer noch andauernden imperialen Blutbad der Kriege in Irak und Afghanistan. Als Historiker war ihm nur allzu bewußt, daß Kriege wie diese mit Lügen begonnen werden, und daß sie in Zerstörung, Verlust und Katastrophen enden.

Übersetzung: Jürgen Heiser


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Stand: 24.11.2024 um 00:35:43 Uhr