Kolumne # 566 vom 29.10.2011: Das Erbe der Tea Party

29.10.11 (von maj) Ist »Occupy Wall Street« amerikanisch oder »unamerikanisch« – das ist hier die Frage

Mumia Abu-Jamal * junge Welt Nr. 252 – 29./30. Oktober 2011

Während die »Occupy Wall Street«-Bewegung Fahrt aufnimmt und zur Inspira­tion für ähnliche Proteste weltweit wird, beschimpfen Verfechter der sogenannten Tea Party die »Occupy«-Aktivisten als »Gesetzesbrecher«, als »Radikale« und sehen ihr Handeln sogar als »unamerikanisch« an (im Gegensatz dazu, wie sie sich selbst sehen, versteht sich). Wenn die Tea-Party-Leute solche Einwände vorbringen, dann wollen sie damit die »Occupy Wall Street«-Bewegung nicht nur in Gegensatz zu sich selbst, sondern auch zu der ursprünglichen Gruppe von Amerikanern setzen, durch die der Begriff »Tea Party« in die Geschichte einging. Nach ihrer Darstellung bestand die »Boston Tea Party« von 1773 aus netten, gesetzestreuen Leuten, die lediglich kleine »patriotische Meinungsverschiedenheiten« mit einigen Kaufleuten hatten. In Wirklichkeit hat es sich nicht ganz so zugetragen.
Der großartige Historiker Howard Zinn (1922–2010) beschreibt in seinem bahnbrechenden Werk »A People’s History of the United States: 1492–Present« die Tea Party nicht nur als ein großes historisches Ereignis von Rebellion, sondern auch als Gesetzesbruch. Man stelle sich nur den Wert der importierten Teekisten vor, die aufgebrochen und in den Bostoner Hafen gekippt wurden. Das Eigentum ortsansässiger Kaufleute – vernichtet! Und warum? Wegen der Zölle, die auf den Tee geschlagen wurden, was die Einwohner Bostons erzürnte, weil sie höhere Preise für etwas zahlen mußten, das sie als Grundnahrungsmittel ansahen. Die Aktion sollte aber auch die britische Kolonialmacht an einer empfindlichen Stelle treffen.
Das britische Empire reagierte prompt auf diese Provokation, indem es die »Coercive Acts« (Zwangsgesetze von 1774) verabschiedete. Der Bostoner Hafen wurde geschlossen, die Kolonialverwaltung vor Ort aufgelöst und bewaffnete Truppen in die Stadt verlegt, was praktisch die Verhängung des Kriegsrechts bedeutete. Die Frage ist, welche zeitgenössische Gruppierung eher ihren amerikanischen Vorfahren gleicht – die »Tea Party« oder »Occupy Wall Street«?
Wir sollten uns aber auch nicht der wichtigen Erkenntnis verschließen, daß Frauen in den Protesten ebenfalls eine bedeutende Rolle spielten. Abigail Adams, verheiratet mit John Adams (dem späteren zweiten Präsidenten der USA), beschrieb ihrem Mann am 31. Juli 1777 in einem Brief eine »Coffee Party«, die damals von hundert entschlossenen Frauen durchgeführt wurde, weil sie wütend waren über die hohen Kaffeepreise in einem Bostoner Laden. Sie marschierten zum Warenlager und verlangten von dem »knauserigen« Kaufmann die Herausgabe der Schlüssel. In Zinns Buch wird Abigails Schilderung des weiteren Geschehens so zitiert: »Als er sich weigerte, packte ihn eine der Frauen beim Genick und stieß ihn in den Karren. Weil er nicht damit rechnen konnte, geschont zu werden, übergab er ihnen die Schlüssel, woraufhin sie ihn mitsamt dem Karren umkippten; dann schlossen sie das Lager auf, hievten den Kaffee selbst in ihre Handkarren und machten sich davon. Zahlreiche Männer waren zusammengelaufen und hatten der ganzen Transaktion verblüfft und schweigend zugesehen.«
»Gesetzesbrecher«? »Radikale«? »Unamerikanisch«? Nun, diese Frauen haben ganz sicher das Gesetz gebrochen, denn in der damaligen Kolonialzeit herrschte britisches Recht. Waren sie »Radikale«? Vermutlich. Waren sie gar »unamerikanisch«? Sie haben privates Eigentum zerstört. Sie sind gegen die Reichen, die sich an ihnen bereichern wollten, vorgegangen und haben ihre Warenlager geplündert. Das alles kommt mir sehr »amerikanisch« vor.

Übersetzung: Jürgen Heiser


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Stand: 24.11.2024 um 02:11:18 Uhr