Mumia Abu-Jamal: »An meine Brüder und Schwestern im Trakt«

13.04.12 (von ivk) Mumia Abu-Jamal wurde am 17. Dezember 2011 nach fast 30 Jahren aus dem Todestrakt des SCI Greene in Waynesburg im südwestlichen Pennsylvania in das Staatsgefängnis SCI Mahanoy in den Nordosten des US-Bundesstaats verlegt. Zunächst war er sechs Wochen im AC-Trakt unter dem Statut der Administrativhaft isoliert. Von dort aus schrieb er die nachfolgenden Zeilen an seine ehemaligen Mitgefangenen in den Todestrakten Pennsylvanias.

Der Brief wurde freundlicherweise von der Pennsylvania Prison Society (http://www.prisonsociety.org) zur Verfügung gestellt. Ihr Motto ist »Justice and Compassion since 1787 – Gerechtigkeit und Mitgefühl seit 1787«.
In der März-Ausgabe 2012 ihres Newsletters »GRATERFRIENDS« (nicht »Greater Friends«!), der an alle Gefangenen in Pennsylvania geschickt wird, wurde der Brief auf der Titelseite abgedruckt (PDF: http://www.prisonsociety.org/pubs/gf/gf_2012_03.pdf[1]). Wir haben hier die Absätze so übernommen, wie Mumia sie in seinem Brief gesetzt und der Newsletter sie abgedruckt hat.
IVK-Online-Redaktion

AN MEINE BRÜDER UND SCHWESTERN IM »TRAKT«

Es ist kaum eine Woche her, seit ich aus dem Todestrakt verlegt wurde, und dennoch kann ich nicht anders als zurückzuschauen, weil viele von euch einen festen Platz in meinem Herzen haben.

Auch wenn ich nun tatsächlich nicht mehr im Todestrakt bin, so begleitet mich der Trakt doch weiterhin Tag für Tag, weil ich in Gedanken bei euch bin. Wie könnte es auch anders sein, wenn ich mehr Jahre meines Lebens im Todestrakt verbracht habe als in ›Freiheit‹? Oder mehr Zeit im Todestrakt verbracht habe als mit meiner Familie?

Ich schreibe euch, weil ich euch allen – auch jenen, denen ich nie begegnet bin – sagen will, daß ich euch liebe, weil wir etwas überaus Seltenes miteinander erlebt haben. Wir haben zusammen geweint und gelacht, wovon die übrige Welt nichts wußte oder mitbekommen hat. Ich war bei euch, wenn ihr verzweifelt wart, weil irgendein Richter wieder einmal all eure Hoffnungen zerschlagen und Enttäuschung euch gepackt hatte; oder wenn irgendein Politiker auf eure Kosten ein höheres Amt erklimmen wollte.

Wir haben erlebt, wie Zeit und Krankheiten manche unserer Leute im Trakt dahinrafften.

Wir haben erlebt, wie etliche das Datum für ihren Tod selber wählten und dem Henker durch ihren Suizid entkamen (William »Billy« Tilley, José »June« Pagan).

Aber, Brüder und Schwestern im Trakt, ich will nicht über den Tod schreiben, sondern über das Leben.

Wenn ich aus dem Trakt hinausmarschieren konnte, dann könnt ihr das auch.

Schlagt Krach, kämpft weiter, bringt die Mauern ins Wanken. Findet euern eigenen »Mills«-Hebel. (1)

Aber es geht noch um mehr. Lebt jeden Tag, jede Stunde, als wären es eure letzten. Liebt mit heißem Herzen. Lernt etwas Neues. Eine Sprache. Eine Kunstfertigkeit. Eine Wissenschaft. Haltet euern Geist wach. Füllt euer Herz mit Leben. Lacht!

Seht im andern keinen Konkurrenten, sondern einen Reisegefährten auf dem gemeinsamen Lebensweg unter der Sonne.

Ganz gleich, was die Welt von euch denkt, erkennt das Beste in jedem von euch und laßt Liebe zwischen euch erstrahlen.

Holt das Beste aus euch heraus.

Wenn ihr mit einer Familie gesegnet seid, laßt all euren Angehörigen spüren, daß ihr sie liebt – unterschiedslos. Wenn ihr aus einer spirituellen Familie kommt oder einen gemeinsamen Glauben habt, praktiziert ihn umfassend und tiefgründig, weil euch das mit etwas verbindet, das größer ist als ihr selbst. Egal ob Christentum, Islam, Judentum, Hinduismus, Krishna-Bewußtsein, Buddhismus oder Santeria (Move).

Das erweitert und vertieft euer Bewußtsein.

Ich betrachte es als Segen, daß viele von euch meine Lehrer oder meine Schüler waren. Manche wurden mir zu Söhnen, andere zu Brüdern. Aber ich sehe in jedem von euch ein Mitglied meiner Familie.

Schöpft Mut, denn die Todesstrafe selbst liegt im Sterben.

Bundesstaaten und Landesbezirke können sie sich einfach nicht mehr leisten, und Politiker, die mit ihr Wahlkampf machen, finden immer weniger Anhänger. Geschworene (vor allem in Orten wie Philly) zögern zunehmend, ein Todesurteil zu verhängen, selbst in Fällen, in denen es unausweichlich scheint.

Schwestern im Trakt, auch wenn wir uns nie begegnet sind, so habe ich in meinem Herzen doch eure Tränen gespürt, wenn ihr gewaltsam von euern Kinder getrennt wurdet und sie nicht mehr halten und küssen durftet. In vielerlei Hinsicht ist für euch als Frauen der Schmerz am größten, weil eure Liebe und eure Gefühle am tiefsten sind.

Meine Worte an meine Brüder sind auch für euch bestimmt: Haltet den Geist wach. Füllt eure Herzen mit Leben. Lebt. Liebt. Lernt. Lacht!

Ich kenne euch alle, wie es nur wenige Außenstehende tun. Ich habe unter euch Künstler, Musiker, Mathematiker, Manager, Knastanwälte (»jailhouse lawyers«) und Börsenmakler getroffen.

Ich habe erlebt wie Typen, die keine gerade Linie ziehen konnten, sich zu meisterhaften Malern entwickelten (Cush, Young Buck). Ich habe erlebt wie Typen, die fast Analphabeten waren, später fließend mehrere Sprachen beherrschten. Ich bin Lehrern begegnet, die Werke von überragender Schönheit und Kunstfertigkeit schufen (Big Tony).

Ihr alle seid weitaus mehr als das, für was andere euch halten, weil der Funke unendlicher Größe in jedem von euch glimmt.

Ihr seid im Todestrakt, aber das Beste in euch ist größer als jeder Todestrakt.

Deshalb sorgt füreinander. Nicht in Worten, sondern mit tätigem Herzen.

Denkt mit positiven Energien aneinander.

Zu guter Letzt, verzinkt euch nicht gegenseitig. (Wenn es so locker wäre, andere zu verzinken, dann hätte ich schon längst meinen Abflug aus dem Trakt gemacht.) (2)

Schlagt weiter Krach, denn euer Tag wird kommen.

Mumia Abu-Jamal
Todestrakt (1983-2011)

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Anmerkungen des Übersetzers:

(1) Mills: Im Fall »Mills gegen Maryland« (1988) hob der Oberste Gerichtshof der USA das Todesurteil auf, weil die Jury im Prozeß gegen den Angeklagten Mills vom Gericht nicht korrekt über die Berücksichtigung mildernden Umstände instruiert worden war; eine Frage, die im Urteil den Unterschied zwischen Todesstrafe und lebenslanger Haft ausmachen kann. Genau aus diesem Grund wurde auch das Todesurteil gegen Mumia von den US-Bundesgerichten aufgehoben.
(2) verzinken = verraten, verpfeifen, anschwärzen; passend zum engl. »to rat« oder »ratting« werden »Zinker« in deutschen Knästen »Ratten« geschimpft.

[Übersetzung: Jürgen Heiser]


Links im Artikel: 1
[1] http://www.prisonsociety.org/pubs/gf/gf_2012_03.pdf

Ausdruck von: http://freedom-now.de/news/artikel871.html
Stand: 23.11.2024 um 21:27:19 Uhr