Aus: junge Welt Nr. 92 – 19. April / Schwerpunkt / Von George und Doris Pumphrey
[Ergänzung zum Artikel »Todesstrafe – Hölle auf Erden]
Selten findet das Justizsystem der USA die Aufmerksamkeit der Mainstreammedien, allenfalls wenn es um individuelle Fälle geht. So entsteht der Eindruck, daß es sich bei dem Unrecht, das z.B. Mumia Abu-Jamal, Troy Davis, Leonard Peletier und Harold Wilson widerfahren ist, um »Ausnahmen«, »Fehler« oder einfach nur »Unzulänglichkeiten« eines ansonsten rechtstaatlichen Systems handelt.
Nur fünf Prozent der Weltbevölkerung leben in den USA. Wie aber kommt es, daß 25 Prozent der Gefangenen weltweit in US-Gefängnissen sitzen? Ein Blick in einen x-beliebigen Gerichtssaal der USA hilft bei der Antwort. Außer bei Anklagen, die in einer Todesstrafe enden können und daher vor einem Geschworenengericht verhandelt werden, wird man dort nur selten Prozesse erleben. Der tägliche Ablauf in einem Gerichtssaal erinnert mehr an ein Fließband: Gefangene werden gruppenweise in den Gerichtssaal geführt. Ein Justizangestellter liest die Anklagepunkte gegen den ersten Angeklagten in der Reihe. Der Richter fragt ihn: »Bekennen Sie sich schuldig oder nicht schuldig?« und der Angeklagte wird antworten »schuldig«. Der Richter verkündet das Urteil und weiter geht’s zum nächsten. Man wird vergebens auf eine Prüfung von Beweisen oder eine Klärung von Tatumständen warten.
Bevor der Gefangene auf dem Fließband zur Verurteilung transportiert wird, hat er bereits den wichtigsten Teil seines »Prozesses« durchlaufen, das sogenannte Plea-Bargaining, also einen »Geständnis«-Handel gegen Strafrabatt. Der Staatsanwalt konfrontiert den Angeklagten mit einer längeren Liste von Verbrechen – egal ob dafür Beweise vorliegen oder nicht – und bietet ihm den Handel an: »Schuldbekenntnis« zu dem einen oder anderen Punkt gegen geringeres Strafmaß. Würde er den Handel verweigern, entweder weil er unschuldig ist in allen Anklagepunkten oder nur in einigen, riskiert er ein erheblich höheres Strafmaß in einem Prozeß.
Wie die New York Times erst am 21. März berichtete, basieren 97 Prozent der Verurteilungen in US-Bundesgerichten und 94 Prozent in den US-Landesgerichten auf dem »Plea-Bargaining«. Anthony M. Kennedy, Richter am US Supreme Court, beschreibt dessen Bedeutung: »Im heutigen Strafrechtssystem (…) ist eher das Aushandeln eines Deals als der Verlauf eines Prozesses fast immer der kritische Punkt für den Angeklagten.« Plea Bargaining »ist kein Anhängsel des Strafrechtssystems; es ist das Strafrechtssystem.« [Betonung im Original] Und der Oberste Richter erklärt das Ziel, denn das »Plea Bargaining« spiele eine »zentrale Rolle«, um »Verurteilungen und Strafmaß sicherzustellen«.
In den USA wurde die Unschuldsvermutung als grundlegendes Prinzip der Rechtstaatlichkeit so gut wie abgeschafft, denn wenn das Gerichtssystem hauptsächlich dazu da ist, »Verurteilungen und Strafmaß sicherzustellen«, spielt Unschuld keine Rolle mehr. Der Angeklagte gilt als schuldig und hat in über 90 Prozent der Fälle nur noch die Möglichkeit, mit der »Schuld« zu handeln. Der Großteil der Angeklagten ist nämlich zu arm, um einen Rechtsanwalt zu bezahlen, um seine Rechte in einem Prozeß geltend zu machen oder gar seine Unschuld zu beweisen. Sie sind auf unterbezahlte Pflichtverteidiger angewiesen, die sich die hohen Kosten von Nachforschungen selbst gar nicht leisten könnten, oft unerfahren und in vielen Fällen auch desinteressiert sind. Deshalb werden sie den Angeklagten drängen, sich auf den Handel mit dem Staatsanwalt einzulassen.
DATEN UND FAKTEN: GEFÄNGNISSYSTEM IN DEN USA
– 25 Prozent aller Gefangenen weltweit befinden sich in US-Haftanstalten (Weltbevölkerungsanteil der USA: fünf Prozent).
– Zwischen 1987 und 2007 sank die Kriminalitätsrate um 25 Prozent, während sich die Inhaftierungsrate verdreifachte.
– Zirka 4,2 Millionen oder jeder 31. Bürger stehen unter der Kontrolle der Justiz (Freigänger, Bewährung oder sonstige Justizauflagen).
– Die überwiegende Mehrheit der Gefangenen in den USA sind »People of Color«, obwohl sie nur 20 Prozent der Bevölkerung ausmachen.Heute sind mehr Schwarze im Gefängnis oder unter der Kontrolle der Justiz, als sich 1850 in der Sklaverei befanden.
– Derzeit gibt es ca. 3200 Gefangene im Todestrakt. Fast 42 Prozent der zum Tode Verurteilten sind Afroamerikaner, bei einem Bevölkerungsanteil von 12,8 Prozent. Seit der Wiedereinführung der Todesstrafe 1976 wurden 1289 Gefangene hingerichtet.
– Seit 1976 wurden 140 Gefangene als unschuldig aus dem Todestrakt entlassen. 51 Prozent von ihnen waren schwarz.
– Jack McMahon, Ankläger in Harold Wilsons ursprünglichem Prozeß, instruierte Staatsanwälte in einem Trainingsvideo, wie sie Geschworene auswählen sollten: Sucht euch »unfaire« und » solche, die zu einem Schuldspruch neigen«. Deswegen nehmt keine »armen Schwarze« oder »ältere schwarze Frauen« mit »mütterlichem Instinkt«. Und keine »klugen Leute«, denn »die analysieren zuviel«, die nehmen die Worte »berechtigte Zweifel« zu ernst. Also, keine »Lehrer, Sozialarbeiter oder intelligente Ärzte.« (bit.ly/prison-system)