Mumia Abu-Jamal * junge Welt Nr. 186 – 11./12. August 2012
Schritt für Schritt bewegt sich die Nation auf die bevorstehenden US-Präsidentschaftswahlen zu. Erfüllt eher von Furcht denn Hoffnung sammeln sich die Unterstützer um ihre jeweiligen Kandidaten in einem Wahlkampf, in dem es mehr um die Person als das Programm geht. Im November stimmen die Wähler dann nicht nur anhand des von milliardenschweren Werbekampagnen geprägten illusionären Abbilds des künftigen Präsidenten ab, sondern krönen auch einen befristet herrschenden Imperator, der eine ungeheuer große Militärmaschinerie befehligt. Nach offizieller Lesart ist dieser Politiker die mächtigste Figur des Systems und regiert, zumindest eine Zeitlang, angeblich diese Struktur.
Wenn wir aber genauer hinter die Kulissen schauen, stellen wir fest, daß dies nur eine weitere Illusion über das Machtgefüge ist, der wir aufsitzen sollen. L. Fletcher Prouty, Oberst der US-Air Force und ehemaliger Kommandeur für Spezielle Operationen des Vereinigten Generalstabs, hat 2011 unter dem Titel »JFK: The CIA, Vietnam and the Plot to Assassinate John F. Kennedy« (»JFK: Die CIA, Vietnam und das Komplott zur Ermordung John F. Kennedys«) ein fesselndes Buch über die von 1961 bis 1963 dauernde Amtszeit des ehemaligen US-Präsidenten veröffentlicht. Darin legt er das schockierende Ausmaß offen, in welchem das Militär und die Geheimdienste die Befehle des Präsidenten ignoriert oder hintertrieben haben.
Im Zentrum von Proutys Analyse steht Kennedys NSAM-Memorandum Nr. 263 (»National Security Action Memorandum # 263«), datierend vom 11. Oktober 1963. Dieses Dokument ist jahrzehntelang unter Verschluß gehalten, sein Inhalt entstellt und falsch interpretiert worden. Für Oberst a.D. Prouty war dieses Memorandum Nr. 263 unzweifelhaft eine Verfügung des Präsidenten, mit der zunächst bis Weihnachten 1963 1000 US-Soldaten und schließlich bis 1965 alle US-Truppen aus Vietnam abgezogen werden sollten. Laut Prouty wollte Kennedy das militärische Engagement der USA in Vietnam beenden, wodurch er zum Feind jener Kräfte wurde, die sein Vorgänger Dwight D. Eisenhower unter dem Begriff »militärisch-industrieller Komplex« zusammengefaßt hatte.
Im Römischen Reich galt der Imperator als Verkörperung des Staates; seine Macht erstreckte sich über das ganze Reich. Aber die schmutzige kleine Wahrheit ist, daß der römische Imperator in Wirklichkeit nichts ohne die Führung seiner Palastgarde, der Prätorianer, entscheiden konnte, die in der Hauptstadt Rom die Macht des Militärs repräsentierte. Ohne die Zustimmung der Prätorianer konnte kein Kaiser ausgerufen werden, und sie besaßen die faktische Macht, den Kaiser zu töten. Von einem Augenblick auf den anderen konnten die Prätorianer eine Regentschaft beenden und einen neuen Kaiser auf den Thron heben, der nicht selten aus den Reihen des Militärs stammte. Dies trifft vor allem auf die Spätphase des Römischen Reiches zu, als das Imperium zerfiel.
John F. Kennedy hatte damit gedroht, den US-Geheimdienst CIA »in tausend Stücke zu zerschlagen«, wie Prouty in seinem Buch zitiert. Allerdings regierte und lebte Kennedy nicht lange genug, um dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen. Auch wenn dies zunächst einmal Proutys Sicht auf die Dinge ist, sollte man sich ernsthaft damit beschäftigen, denn schließlich hatte er als hochrangiger Funktionär von Staat und Militär einen besonderen Einblick in diese internen Vorgänge. Mit seinem Buch zeichnet er deshalb nicht einfach das Bild eines Präsidentenmordes, sondern eines Palastputsches. Das späte Rom am Potomac River.
Übersetzung: Jürgen Heiser