Aus: junge Welt Nr. 246 – 22. Oktober 2012 / Von Jürgen Heiser
Fast 900 Tage wird der als »Whistleblower« angeklagte Bradley Manning sich in Untersuchungshaft befinden, wenn Ende des Monats vor einem US-Militärgericht über die Frage verhandelt wird, ob er zeitweise folterähnlichen Haftbedingungen unterworfen war. Um Regularien zur Bewältigung dieses Themas ging es in der zweitägigen 8. Anhörung, die vergangenen Donnerstag (Ortszeit) vor dem Militärgericht in Fort Meade, Maryland, zu Ende ging.
Seit Monaten versucht die Verteidigung den Nachweis zu erbringen, daß der 24jährige Obergefreite in den ersten neun Monaten seiner Untersuchungshaft auf der Marinebasis Quantico, Virginia, einem schikanösen Isolationshaftstatut unterworfen war, das von George Flynn, einem Dreisternegeneral der US-Marine, kontrolliert wurde. Ihr Mandant sei mit Wissen der Militärführung mißhandelt worden. Vollzugsbeamte hätten Flynn regelmäßig Berichte über Mannings Verfassung in der Haft zugesandt. Dies käme einer »Bestrafung ohne Gerichtsurteil« gleich, kritisierte Hauptverteidiger David Coombs sowohl die Haftbedingungen als auch die übermäßig lange Dauer der Untersuchungshaft.
Bekäme die Verteidigung in dieser Frage recht, müßte das Verfahren umgehend eingestellt und der Angeklagte freigelassen werden. Die jetzt für 30. Oktober bis 2. November anberaumte 9. Anhörung soll ausschließlich der juristischen Auseinandersetzung um den 117 Seiten umfassenden Einstellungsantrag der Verteidigung dienen.
Dann wird sich die Staatsanwaltschaft zu Vorwürfen der Verteidigung äußern müssen, sie habe zum einen versucht, Beweise zu unterdrücken, die Manning in das Licht rücken könnten, ein »Whistleblower« zu sein, der im öffentlichen Interesse handelte und deshalb nicht staatliche Verfolgung, sondern Schutz verdiene. Zum anderen, so Coombs, habe das Pentagon den Fortgang der seit Dezember 2011 laufenden vorprozessualen Anhörungen und den Beginn der Hauptverhandlung immer wieder verschleppt. »Wenn die Hauptverhandlung am 4. Februar 2013 beginnt«, so Anwalt Coombs, »wird der Obergefreite Manning sich insgesamt 983 Tage in Untersuchungshaft befinden, ohne daß auch nur ein einziger belastender Beweis gegen ihn vorgebracht wurde.« Das New Yorker Empire State Building hätte in dieser Zeit fast zweieinhalb Mal erbaut werden können, erklärte Coombs, um die Haftdauer plastisch zu veranschaulichen. Nach dem Gesetz dürfe sie jedoch nicht länger als 120 Tage dauern. In seinem Antrag kommt Coombs zu dem Schluß, die Abwicklung dieses Falls sei von »staatsanwaltschaftlicher Inkompetenz und einem profunden Mangel an gebührender Sorgfalt« staatlicher Stellen geprägt.
Zur Untermauerung dieses Vorwurfs und zu den gesetzwidrigen Haftbedingungen ihres Mandanten wird die Verteidigung in der kommenden Anhörung eine Reihe von Zeugen aufrufen. Dazu hat sie sich mit der Vorsitzenden Richterin, Oberst Denise Lind, und den Vertretern der Anklage am Donnerstag auf das Prozedere geeinigt. Die Staatsanwälte werden im Vorfeld Informationen zu ihren Kontakten mit den potentiellen Zeugen liefern, damit die Anwälte entscheiden können, wen sie letztendlich laden werden.
Dem bis zu seiner Verhaftung Ende Mai 2010 in der irakischen Hauptstadt Bagdad stationierten Nachrichtenanalysten der US-Armee wird vorgeworfen, umfangreichen »Geheimnisverrat« begangen zu haben. Nach Angaben des Pentagon soll er interne Dokumente aus dem Computernetzwerk der US-Armee an die Enthüllungsplattform Wikileaks weitergereicht haben. Die Veröffentlichung der zum Teil höchst brisanten Unterlagen über die US-Kriegführung in Irak und Afghanistan sowie Hunderttausender vertraulicher Depeschen zwischen Hillary Clintons Außenamt und US-Botschaften in aller Welt hatten die US-Regierung und die Militärführung in arge Bedrängnis gebracht. Manning droht dafür lebenslange Haft.