Kolumne # 625 vom 15.12.2012: Perfekter Zeitpunkt

15.12.12 (von maj) Ägyptens Präsident nutzte internationales Lob für innenpolitische Weichenstellung

Mumia Abu-Jamal * junge Welt Nr. 292 – 15./16. Dezember 2012

Seit den ersten Tagen des sogenannten arabischen Frühlings habe ich stets gezögert, die ägyptische Rebellion auf dem Tahrir-Platz, dem Platz der Befreiung, eine Revolution zu nennen. Ich habe sie als »Vorrevolution« bezeichnet, weil die Beseitigung eines Mannes aus seinem Amt, selbst wenn es sich dabei um einen scheinbar so mächtigen Präsidenten wie Hosni Mubarak handelt, noch lange keine wirkliche Revolution ist. Inzwischen hat sich gezeigt, daß mächtige gesellschaftliche Gruppen vor allem im Militär ihren früheren Anführer wohl den Löwen zum Fraß vorgeworfen haben, um ihren eigenen Status und ihre Privilegien innerhalb der ägyptischen Gesellschaft zu retten.
Der Aufstieg von Mohammed Mursi zum Staatspräsidenten hat auf der anderen Seite des Atlantischen Ozeans die große Besorgnis ausgelöst, daß ein ehemaliger führender Kopf der Moslembruderschaft eventuell den israelisch-ägyptischen Friedensvertrag für null und nichtig erklären könnte. Präsident Mursi hat sich jedoch durch seine Funktion als Vermittler zwischen Gaza und Israel im Westen sehr beliebt gemacht. Man konnte ihn gar nicht genug dafür loben, daß es ihm gelungen war, in den Verhandlungen zwischen der Hamas und Israel einen Waffenstillstand zu erreichen.
Präsident Mursis kürzlich abgegebenes Bekenntnis zur Konzentration der Macht in seinen Händen war deshalb zeitlich perfekt geplant, weil er diesen Schritt in dem Moment machte, als die US-Regierung voll des Lobes für ihn war. Gegen die uneingeschränkte Macht der Mubarak-Diktatur, von der Ägypten jahrzehntelang beherrscht wurde, haben letztendlich ja auch nur wenige im Westen ihre Stimme erhoben, weil Mubarak als verläßliche Marionette des Westens galt.
Würden die Regierungen des Westens heute dagegen protestieren, daß Mursi die Macht an sich gerissen hat, dann wäre das der Gipfel der Heuchelei. Aber so neu ist Heuchelei in der US-Außenpolitik nicht. Sie ist vielmehr die Norm. Die einzige Frage, die die USA umtreibt, ist doch die, ob das, was passiert, ihren ureigensten Interessen dient: Wirft es den Nahen Osten in seiner prekären Situation völlig über den Haufen oder nicht? Die Antwort auf diese Detailfrage beinhaltet gleichzeitig die Antworten auf die Fragen zum großen Ganzen.

Übersetzung: Jürgen Heiser


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Stand: 24.11.2024 um 01:05:57 Uhr